Führung existenziell verstehen Dekonstruierende und rekonstruierende Überlegungen zu ›Existential Leadership‹

Einwände, Einsprüche, Widersprüche 

III. Einwände, Einsprüche, Widersprüche

Personales Gewissen

In der von den Autoren konstruierten Dichotomie von personalem Gewissen einerseits und gesellschaftlicher Über‐​Ich‐​Instanz andererseits, gehen notwendig die Zwischentöne verloren. Und eine noch irgendwo an eine Kant’sche Ethik sich haltende Vernunft geht über Bord. – »Die Unterscheidung zwischen Gewissen und Über‐​Ich ist«, nach Meinung der Autoren, »für den Leader wichtig, weil er darin erkennt, ob seine Entscheidungen wirklich auf …  seinem Wesen beruhen, oder ob er von Prinzipien und … Vorgaben geleitet ist, die er aus Angst vor Strafe und Konsequenzen befolgt.« (164).

Wenn aber nicht existenziale Ehr‐​Furcht das Gemüt erfüllt, sondern nur objektbezogene Furcht vor dem moralischen Gesetz, das als Über‐​Ich‐​Instanz auf mich ausgreift, dann bleibt als Exil nur noch das personale Gewissen als Ort der Freiheit. Von hier aus können »Authentische Leader … mit reinem Gewissen Über‐​Ich‐​Übertretungen machen.« Darin gründen, so die Feststellung der Autoren, »Reife und Autorität, … in der Person des Leaders« (ebd.).

Jene personale Freiheit, die sich etwa aus Gründen der vernünftigen Einsicht in gesellschaftliche und soziale Arrangements fügt und diesen entspricht, sich diese gar aufgrund einer ›personalen Stellungnahme‹ zu eigen macht, muss zwangsläufig als apersonal markiert und in der Eskalation zwischen den Fronten zerrieben werden.

So zugespitzt muss der Leader schon wissen, auf welche Seite er sich schlägt. Will er ›Hammer oder Amboss‹ sein, Leader oder Follower? Will er sich etwa tatsächlich bestimmen lassen durch ein »Diktat des ›Man‹ «, das er – nur nebenbei bemerkt – in seiner Rolle anderen aufoktroyiert, oder gar durch einen »verinnerlichten Anspruch der Umwelt«?! (173).

Für echte Leader gilt Bangemachen nicht, weil sie bereits bei Antritt ihrer Reise, als Helden, schon losgesprochen sind. Die Absolutionsformel der Autoren lautet: Obgleich das »Gewissen keine moralisch höhere Kategorie« ist (164), stehen doch »Personale Gewissensentscheidungen … über jedem Regelwerk.« (165)

Hier offenbart sich ein bemerkenswerter methodologischer Monadismus. Und dieser kommt nicht von ungefähr:

Wie im Brennglas zeigt sich hierin die letztlich sorglose Weltabgewandheit einer in ihrem Kern nur sich selbst verbindlichen subjektivistischen Position. Und diese verweist auf die (auch) in der Existenzanalyse grundlegende Sprachlosigkeit hinsichtlich ethischer Fragen und moralischer Urteile.[4] Diese Position gibt sich hier allerdings vollends und offenbar fraglos dem Optimismus und den Konsequenzen einer im Hintergrund wirkenden (Schelerschen) metaphysischen Werteethik hin, welche das Subjekt – apriori – von jeder ›eigenen‹ ethischen Verantwortung freispricht. Solcherlei Hingabe geschieht entweder unreflektiert, oder ihre geistige Verwandtschaft wird eilfertig als belanglos abgetan:

Hier vorliegend, jedenfalls, wird mit dem immer wieder populären Hinweis auf mangelnde Praktikabilität und die Unfruchtbarkeit weiterer Erörterungen der Diskurs vorsorglich weggewedelt. So heißt es: »Unabhängig davon, ob man die philosophische Position des apriorischen und objektiven Status von Werten teilt, ist es … wichtig, auf der praktikablen Ebene zu bleiben«. Die Vorteile liegen zweierlei auf der Hand: »Zum einen schützt es die Wertediskussion vor der Debatte …, was in der Leadership nur ablenkt«. Zum anderen wird damit verhindert, dass Werte[…] Gegenstand einer rationalen…[D]iskussion werden.« (53).

Einspruch!

Auf den Vorausbedingungen des Schelerschen Apriorismus und dessen metaphysische Ontologie gründet eine ganze phänomenologische Schule (vgl. z.B. Henckmann, 1990). Diese lässt sich mithilfe rhetorischer Mittel nicht einfach so beiseiteschieben: Das Konzept der ›personalen Ethik‹ funktioniert nun gerade nicht unabhängig davon, ob man vom Angebundensein der Person als innere Repräsentanz an eine äußere, immer schon prästabile Werte‐​Welt ausgeht oder nicht. Es ist wie beim Auto‐​Scooter: Die Sache funktioniert nur, wenn der Fahrdraht an den Strom von oben angebunden ist. Das heißt: Das Gewisswerden des sittlich Richtigen in der Person kann man nur annehmen, wenn man von dieser philosophischen Position als zwingende Prämisse ausgeht. Dann, und nur dann, offenbart »der Blick nach innen … und zu dem, was … ganz persönlich wichtig ist« (170) auch dasjenige, was das ›kosmologisch‹ Richtige ist. [5] – Nimmt man also das eine nicht in Kauf, kann man das andere nicht haben und muss sich dem Einwand des Solipsismus stellen.[6]

Der Ansatz der Autoren setzt sich allerdings pragmatisch darüber hinweg. Vielmehr erscheint ihnen innere sittliche Erleuchtung eher als eine Frage der Übung: »Das Gewissen ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss, denn wenn ein Leader ihn braucht, muss er fit sein.« (172). »Wie ein Gourmet seine Geschmacksknospen, kann der Leader auch seine … geistige Ästhetik trainieren«. Dabei ist der Blick ganz tief nach innen und die »Intimität entscheidend« (170). »Stimmig kann nur das sein, wenn es dem Leader« frommt (ebd.). Dies sei, so die Autoren, dann eine ›humanistische‹ – also menschenfreundliche – Version des kategorischen Imperativs (ebd.).

Die weichenstellende Frage: »Wenn ich ganz allein auf der Welt wäre und es nur um mich ginge«, ist in dieser Hinsicht natürlich folgerichtig. Genauso wie sie angesichts dieses allein In‐​der‐​Welt‐​Seins aber nirgendwohin führt.[7]