Führung existenziell verstehen Dekonstruierende und rekonstruierende Überlegungen zu ›Existential Leadership‹

Existenzielle Psychodynamik

IV. Führung existenziell verstehen

Existenzielle Psychodynamik

Transformationen, Veränderungen, Ordnungsübergänge, Change, VUCA, BANI und Chaos (vgl. kurz dazu Mattenberger, 2021) evozieren in unserem Bewusstsein das Aufkommen existenzieller Fragen. Diese sind uns alle schon irgendwie vertraut. Aber wir begegnen ihnen so gerne wie den ungeliebten Verwandten: Scheinbare Gewissheiten versinken in der Verflüssigung haltgebender Strukturen.  Unsere bislang als sorglos gedachte Freiheit zeigt nun drängend ihre Kehrseite als Verantwortung und als unausweichliche Schuld im verschwimmenden Horizont einer kontingenten Welt. So sind wir unerwartet auf unsere je existenzielle Be‐​Sorgnis zurückgeworfen. Einsamkeit und Isolation ziehen als uns inhärente existenzielle Möglichkeiten plötzlich die Aufmerksamkeit auf sich, sobald das Gemeinsame unserer sozialen Systeme und Institutionen zusehends erodiert. In den uns wegbrechenden Rollen erleben wir die wachsende Dysfunktionalität unserer Verhaltensrepertoires. Wir sind konfrontiert mit dem Versagen unserer bevorzugten Routinen und Wahrnehmungsverzerrungen. Unser Straucheln wird im Blick des Anderen im Mitsein plötzlich zum Skandal: Dies gibt meine eigenen Ungeschicklichkeiten und Irrtümer preis und beschämt mich. Und eine verstummende Resonanz mit der uns umgreifenden Welt lässt in uns das Wissen um die fundamentale Absurdität und Sinnlosigkeit unserer Existenz laut werden. Das alles stellt uns je vor das Nichts und erinnert uns unserer Endlichkeit als zeitliche Wesen.  – Diese und ähnliche Anfragen an das Menschsein provozieren Emotionen, die wir zunächst und zumeist als bedrängend und unangenehm empfinden.

Folgt man hierauf etwa der Konzeption Existenzieller Psychodynamik nach Rollo May und Irvin D. Yalom (vgl. Yalom, 2000, 18ff.), wonach aus der Konfrontation mit ›letzten Dingen‹ intrapersonale existenzielle Konflikte hervorgehen, lassen sich die sogenannten vier Grundmotivationen sozusagen zurück‐ oder anbinden an die ›Gegebenheiten‹ der Existenz. Diese beinhalten dann unter anderem die Aufforderungen,

  1. uns an uns selbst und dem Geworfensein den eigenen Entwurf entgegen zu halten,
  2. uns dem Faktum existenzieller Einsamkeit im Mitsein zu stellen,
  3. unser Zugesprochensein schon der Tatsache unseres Daseins zu entnehmen und es damit gut sein zu lassen,
  4. unsere kontingente Welt als solche anzuerkennen und in der Solidarität mit anderen ihre Absurdität zu beantworten.

Doch tendieren wir zunächst und allgemein dazu, gegenüber diesen Anforderungen dynamisch auszubiegen, sie als Über‐​Forderungen und letztlich als unangenehme Zumutungen zu erleben.

Zur Bewältigung dieser existenziellen Dynamik suchen wir

  1. Halt angesichts der Freiheit und des Abgrunds in der Besorgnis um die grundsätzliche Haltlosigkeit unseres Daseins und das Wissen um unsere Endlichkeit.
  2. Gemeinschaft mit anderen und wollen Teil von etwas Größerem sein, um unserer unausweichlichen existenziellen Isolation auszuweichen.
  3. Legitimation unseres So‐​Seins in der Sorge darum, vom Anderen be‐ oder verurteilt zu werden.
  4. Sinn in der Welt, und wir weichen dem tiefen Wissen darum aus, dass es für niemanden einen großen Plan gibt.

Und so tasten wir den Horizont ab und richten unseren Fokus hilfesuchend auf alternative Arrangements und Institutionen. Diese sollen es uns ermöglichen, noch vor der unangenehmen Begegnung mit unseren Daseinsstrukturen wieder zur Seite zu treten. Wir fädeln dann ein durch das Nadelöhr sich anbietender expliziter Regeln und ungeschriebener Gesetze von Gesellschaft, deren Subsystemen und Organisationen. Darin ›verfallen‹ wir an eine Welt des ›Man‹, deren Teil wir schon immer sind und die wir zugleich immer auch mitkonstituieren und emergieren. Wir spinnen uns ein in den schützenden Kokon vergemeinschaftlichter Nivellierung. So machen wir uns unsichtbar oder klein, assen andere im Lichte des Narzissmus erstrahlen, machen sie groß und finden Asyl in paternalistischen Strukturen. Wir suchen Absolution von existenzieller Schuld in der Ich‐​Hergabe. Und wir sind bereit, uns dabei auf fadenscheinige Sinnangebote einzulassen, auf der Flucht vor der Tatsache unseres doch unveräußerlichen Selbst. – Und im Aufgehen in etwas Höherem, etwas Absolutem entkoppeln wir uns von unserem je Eigenen.

Im Balanceakt über den ›garstigen Graben‹ (Lessing) binden wir uns herkommend an einen erklärenden und uns schon entschuldigenden Determinismus der Kausalität. Und hinstrebend ankert unser Seil in einer Sorglosigkeit, die uns der Frei‐​Spruch vermeintlicher Finalität und unseres schon festgelegt geglaubten Wesens verheißt. – Und während wir so im Kollektiv, in scheinbar wiedergewonnenen Rollen und Strukturen unsere je eigene Verantwortung für einen sicheren Halt feilbieten, geben wir mit derselben Münze unsere Freiheit preis. So überlassen wir uns gesellschaftlichen oder organisationalen Institutionen zur Bewältigung unserer Daseinsthemen.

Unsere Empfänglichkeit für die Botschaften sogenannter Influencers und unsere Bereitschaft, uns in solchen Momenten von anderen führen und anweisen und auf die Plätze verweisen zu lassen, enthüllen dann jeweils diese Strukturen. Anstatt den existenziellen Zumutungen einen eigenen und in sich gut gegründeten Entwurf mutig entgegen zu halten, suchen wir dadurch zu entkommen, dass wir sogenannten ›Leaders‹ folgen, an die wir unsere existenziellen Bedrängnisse delegieren. Ihnen halten wir dann die leere Schüssel unserer Bedürftigkeit entgegen, die zugleich voller Erwartungen ist. Und wir halten uns an das, womit sie uns hinhaltend abspeisen.

Darin besteht nun aber ganz offensichtlich im vorliegenden Buch die Funktion von ›Existential Leadership‹. Denn nach Auffassung der Autoren ist es die Aufgabe von Führung, derartige entlastende Arrangements anzubieten. Denn ein ›Leader‹, wie die Autoren es formulieren,

  1. sorgt dafür, dass jeder seinen Platz findet und »ungestört arbeiten kann«,
  2. vermittelt « Nestwärme …, sodass die Menschen gerne ihre Zeit im Unternehmen verbringen«,
  3. ermöglicht »Augenhöhe«, die »Kreativität freisetzt«, und
  4. schafft im Füreinander ein übergeordnetes Gemeinsames. (128f.).

Zweifellos lenkt die angewandte Existenzanalyse den Blick auf solcherart gegründete Strebungen oder existenziellen Bedürfnisse des Menschen, die sich – wie hier skizziert – als Ergebnis der Suchbewegung des Menschen aus der Konfrontation mit ›letzten Dingen‹ und seinen Daseinsstrukturen heraus verstehen lassen. Und ohne Frage erscheint es rational, diese bei der Gestaltung von Organisationen und im Führungsverhalten zu berücksichtigen, wenn und weil man Menschen in Organisationen in dieser Suchbewegung entgegenkommen will oder im Wettbewerb um Potenzialträger werden muss. Schon daher ist auch im Organisationskontext gegen einen pragmatisch orientierten und zweckmäßigen Einsatz existenzanalytischer Erkenntnisse und Methodik gar nichts einzuwenden, um mit ihrer Hilfe Unternehmen attraktiver und erfolgreicher, kreativer und produktiver zu machen. Die Existenzanalyse verfügt hierfür über ein in sich geschlossenes Curriculum und ein festes methodisches Repertoire, das in zahlreichen Anwendungsfeldern erprobt ist und seit Jahren vielfach reproduziert wird. Und dieses leistet insofern auch im Bereich der Organisationsentwicklung ›gute Dienste‹[10]. Richtig übersetzt und angewandt, kann dies auch für Unternehmen höchst wirksam sein, sobald für Organisationen die Kunst der Kopplung mit ›dem Menschen (vgl. Groth, 2021) für die Anschlussfähigkeit an sich dramatisch verändernde Umweltbedingungen sehr viel bedeutsamer wird.[11]

Dies steht außer Frage. – Nur den geltend gemachten Anspruch, ›Leadership von existenzphilosophischen Grundlagen herzuleiten und hinzuführen‹, erfüllt dies alles nicht.

Denn immer dort, wo es, wie im vorliegenden Buch auch, um ergebnisorientierte Unternehmenstransformationen durch die einem Zweck entsprechende Humanisierung geht, wird das Zweite durch das Erste in Anspruch genommen. Dann disponiert der ›Leader‹ mit dem, was er – folgerichtig – als ›Human Capital‹[12] ansieht, und das er dann auch als solches behandelt. Und deshalb entkommt man in der Verfolgung unternehmerischer Ziele und Zwecke letztlich auch nicht einer cartesianischen Prozessanordnung, so sehr man sich auch bemühen mag.

Menschwerdung ist zwecklos

Dennoch: Die Autoren postulieren einen engen Zusammenhang von Unternehmenswerdung und Menschwerdung, der durch ›Existential Leadership zum Erfolg‹ gebracht werden könne: »Je mehr ein Leader … das jeweilige Stadium existenziell etablieren kann, desto mehr wachsen das Unternehmen und die darin tätigen Menschen in ihrer ganzen Größe. Menschwerdung und Unternehmenswerdung stehen in einem engen Zusammenhang und bedingen sich gegenseitig.« (66).

Nein! ›Menschwerdung‹ ist auf ICH‐​Werdung ausgelegt und vollzieht sich als Geschehen innerhalb einer auf einem DU gründenden Beziehung. Der Mensch wird nicht am Unternehmenszweck zum Ich! Jegliche Verzweckung von Menschen ersetzt das DU durch ein ES. Und an diesem kann unmöglich der Mensch zu sich kommen (vgl. z.B. Störig, 2016, S. 674ff.). Dies gilt im Übrigen nicht weniger im Fall der Selbstverzweckung und vorzugsweise auch dann, wenn, wie es bei den Autoren heißt, der Mensch ›für etwas gut sein will‹.

Martin Buber sagt es so: »In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung, weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf.« (Buber, 2000, S. 25).

Jede Verzweckung des Menschen beinhaltet dessen Festlegung auf ein ›Dafür‹. Und dies folgt dem ›quid pro quo‹: dies für das! So entgeht oder verpasst er das ›Für sich Sein‹ und entsagt, Sartre folgend, seiner Freiheit. Das ›für Etwas gut sein Wollen‹ legt den Akzent auf den Tauschwert oder den Gebrauchswert eines Menschen. Dort herrscht das Prinzip des ›do ut des‹: Ich gebe, damit Du gibst! Und also geht der Mensch in diesem Modus auch mit sich selbst und anderen so um, wie er mit vorhandenem Zeug umgeht, das zuhanden und für etwas zu gebrauchen sein muss. Das zu diesem oder jenem Zwecke zielgerichtet eingesetzt wird und erst daraus seinen Wert erhält. Dann lässt er es zu, dass auch andere so mit ihm verfahren. Dann gibt er seine Verantwortung ab an ›Leadership‹, eine Institution, die ihm – wenn auch nur für kurze Frist – ein Entkommen aus den Zumutungen seines Daseins verspricht. Und er gibt seine Freiheit hin im Tausch für ein Etwas.