Führung existenziell verstehen Dekonstruierende und rekonstruierende Überlegungen zu ›Existential Leadership‹

Existenzielle Führung

Existenzielle Führung

Das hat für das existenzielle Verstehen von Führung und Organisation einschneidende Konsequenzen:

Will man sich ›Existenzieller Führung‹ verstehend nähern, dann ist sie als soziales Phänomen beispielsweise in Heideggers ›Mitsein‹ und dort in der Fürsorge aufzufinden. Und sie kann von dort aus und dann von der Begegnungsphilosophie und der kommunikativen Existenzerhellung (vgl. dazu umfassend Theunissen (1977) herkommend existenzphilosophisch ausgelegt werden.

Der Weg dahin führt über Heideggers Konzept der Entschlossenheit des Daseins im ›Mitsein‹. Diese ist nicht allein selbstbezüglich, sondern hat zugleich das Sein des Anderen im Blick. Sie äußert sich in der Fürsorge und enthebt den Menschen nicht ethischer Verantwortung, sondern sie führt ihn als Möglichkeit unmittelbar daraufhin: »Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von der Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich [,sondern] stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen.« (SuZ, S. 298).

Selbstverantwortung beinhaltet also zugleich die Möglichkeit ethischer Verantwortung im Sinne des Bemühens um das Wohl des Anderen und dessen Befähigung, das Leben in seinen Grenzen und Möglichkeiten anzunehmen. – Dabei entwickelt Heidegger quasi ein Kontinuum der »positiven Fürsorge«. In diesem »hält sich das alltägliche Miteinandersein und zeigt mannigfache Mischformen«. (SuZ, S. 122). Als jeweilige Endpunkte lassen sich ihm zufolge zwei Modi der Fürsorge ausmachen:

Erstens im Abnehmen der Sorge als »Einspringen«, als beherrschender Modus. Und zweitens in einer »Vorausspringenden Fürsorge«, als eigentliche Sorge im befreienden Modus:

Die einspringende Fürsorge beraubt den Menschen seiner Eigenständigkeit und benimmt ihn der Fähigkeit, selbstorganisiert sein Leben zu gestalten, sich den Zumutungen des Daseins zu stellen, frei, bewusst und verantwortlich zu entscheiden. Hier zeitigt und stabilisiert sich die Diktatur des Man. Ihr gegenüber steht die vorausspringende Fürsorge. In ihr zeigt sich die Kunst, den Anderen zu stärken in seiner Fähigkeit, sein Dasein zu gestalten, ihm zu helfen, Verantwortung einzusetzen und seine Freiheit zu bewahren, und es zu wagen, selbst eigentlich zu sein. Die erforderliche Haltung hierfür gründet in einer den Menschen nicht verzweckenden Begegnung und einer radikalen Offenheit hinsichtlich des materialen Ergebnisses (vgl. ebd.): Die freihaltende Fürsorge für den Anderen betrifft nicht das Was, das er besorgt. Sie verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge für sie frei zu werden (vgl. ebd.).

Zwischen einspringen und vorausspringen

Bezogen auf Führung und Organisation ergibt sich nun folgendes: Unternehmen sind – unabweisbar und ›ihrem Wesen‹ nach – auf Zwecke und Ziele festgelegt und müssen dies auch sein. Dort geht es sozusagen praktisch‐​normativ um Fragen, welchen Beitrag ›Leadership‹, das Führen von Menschen, innerhalb von Organisationen leistet und auf welche Erkenntnisse diese sich dabei stützt. Hier kann das Wissen um die Bewältigungsstrategien des Menschen im Horizont seiner existenziellen Bedrängnisse zum Gegenstand eines organisationalen Kalküls werden, das sich des Konzepts der einspringenden Fürsorge bedient. »In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben.« (Ebd.). Dieses kann zweckmäßig und effektiv sein. Und es mag auch gerechtfertigt sein, wenn darüber Klarheit besteht. Dann aber darf beherrschende Führung ihre Zwecke nicht hinter dem Management von Emotionen maskieren, sondern soll diese sozusagen mit offenem Visier vertreten.

Die in der aktuellen Debatte und im vorliegenden Buch offenbar so zentrale Frage nach dem organisationalen Sinn wirft vor diesem Hintergrund allerdings beispielhaft ein Licht auf die Funktionsweise zahlreicher, schier unüberschaubarer Ansätze moderner Beratungskonzepte und Managementmoden (vgl. dazu Martensen, 2021), die ihren Beherrschungswillen hinter einspringender Fürsorge verbergen: Sinn soll dann durch etwas Höheres und im Miteinander eine Verbundenheit im Füreinander erzeugen[13] und diese im Mission‐​Statement und der Unternehmens‐​Vision sichtbar machen. Dahinter sollen sich dann die Menschen im Unternehmen für dieselbe Sache, wie hinter einem Banner, versammeln und fortan in gemeinsamer Formation einherschreiten.

Heidegger bescheidet solches Ansinnen kurz und knapp wie folgt: »[Da]s gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache ist aus dem je eigens ergriffenen Dasein bestimmt. Diese eigentliche Verbundenheit ermöglicht erst die rechte Sachlichkeit, die den Anderen in seiner Freiheit für ihn selbst freigibt.« (SuZ, S. 122).

Verbunden in Freiheit

Demzufolge ist die freie Selbstergreifung dem gemeinsamen Sicheinsetzen für dieselbe Sache vorgängig. Erst die Selbstergreifung und die je eigene Entscheidung für eine Sache ermöglicht Verbundenheit in Freiheit, das heißt im Modus eigentlicher Existenz. Von daher sind jegliche Versuche des Erzeugens, des Vorgebens oder des ›Stiftens‹ von Sinn in Organisationen letztlich als Führungsmethode der beherrschenden Fürsorge zu verstehen. – Auf dieser Linie liegen ähnliche hieran orientierte Maßnahmen: Etwa das Schaffen einer haltgebenden Wohlfühlatmosphäre, in der jedem ein Platz zugewiesen wird, das Vermitteln von Wärme und Zuwendung, das bemühte Loben oder die eingeübte Wertschätzungskultur. Diese und vergleichbare Ansätze adressieren – ob reflektiert, verstanden oder nicht – den Modus uneigentlichen Seins innerhalb von Organisationen. Im Streben nach Entgrenzung zielen diese Maßnahmen darauf, Verfügung zu erlangen über das Personsein in der Organisation (vgl. Märtin, 2021). Zwar mögen sich dort existenzielle Dynamiken beruhigen, es wird dabei jedoch übersehen, dass organisationale Übergriffe auf Emotionen[14] nicht Verbundenheit erzeugen, sondern Abhängigkeit, Unfreiheit und Unzufriedenheit. Gegenüber distanzlosen Unternehmenskulturen bewahren die so Angesprochenen das Personale in innerer Reserve. Und sie beantworten derartige Maßnahmen rekursiv wie in selbsterfüllenden Prophezeiungen auf genau derselben Ebene.[15] So halten Führende und Folgende einander in einer Art ›Sperrklinkeneffekt‹ im uneigentlichen Modus in Schach. Wer Menschen auf einen Zweck festzulegen sucht, verpasst den Kairos zu personaler Begegnung: Das Personale entzieht sich jeglicher Verfügbarkeit. (Vgl. Dorra, 2020).

Allerdings gewinnen für Organisationen angesichts komplexitätserzeugender VUCA‐​Phänomene (vgl. dazu Martensen, 2021) Innovationskraft, Kreativität und die Kollaborationsfähigkeit jedes Einzelnen an Bedeutung (vgl. Jantscher/​Lauchart‐​Schmidt, 2021, S. 66). Einhergehend damit erhalten Selbstverantwortung, Selbstorganisation, freigebendes Empowerment und damit eigentliches Sein sehr viel stärkeres Gewicht. Dort können einspringende Fürsorge und beherrschende Führung aus den genannten Gründen grundsätzlich nichts zu Wege bringen und bleiben daher zwangsläufig ohne die erhoffte Wirkung.