Projekt

Gewissheiten und Strukturen im Umfeld von Organisationen lösen sich rasant auf, organisationale Binnenwelten erscheinen komplexer und segmentierter, flüchtiger, ungewisser, vielschichtiger, mehrdeutiger. Führenden wie Geführten mangelt es zusehends an Orientierung in der Rolle: Sie werden je auf sich, auf ihr Verhältnis zueinander, auf fundamentale Daseinsfragen zurückgeworfen; auf Haltlosigkeit und Angst, Endlichkeit und Sinnlosigkeit, Verbundenheit und Einsamkeit, Authentizität und Zweifel, Freiheit und Verantwortung. Groß ist die Sehnsucht nach einem existenziellen Anker. Und zunehmend fragwürdig erscheinen etablierte wie auch moderne Führungskonzepte. – Diesen Befund nehmen wir als Ausgangspunkt, das Wesentliche von Führung ins Licht zu ziehen und Konsequenzen für die Führungs‐ und Beratungspraxis auszuleuchten. Die Essenz kommt in den Blick, sobald Führung die Maske des Gefühlsmanagements fallen lässt, im begegnenden Dialog Gesicht zeigt und auf Fragen des Menschseins in Organisationen antwortet. Das ist das Anliegen unseres Projekts »Existenzielle Führung«.

Georg Martensen: Unternehmen und andere Organisationen verschwenden Jahr für Jahr gigantische Budgets für die Entwicklung von Personal und vor allem Führungskräften. Die Ergebnisse sind dürftig und enttäuschend: Mitarbeiter, Führungskräfte, HR‐​Verantwortliche und Top‐​Management sind seit Jahren für sich und zugleich kollektiv frustriert. – Das ist das zentrale Ergebnis der »Global Leadership Forecast«-Studien des DDI: Fast zwei Drittel der Führungskräfte bezeichnen das Angebot an Entwicklungsmaßnahmen als bestenfalls wirkungslos. Nur jeder Vierte HR‐​Verantwortliche klassifiziert die Führungsqualität im eigenen Unternehmen als hoch. Methodenschulungen und Verhaltenstrainings verschlingen Ressourcen und erzeugen eine seit Jahren anhaltende und für alle kräftezehrende Stagnation der Leadership‐​Ability: »Leadership is going nowhere fast«, heißt es zusammenfassend. Folgt man den einschlägigen Studien von Hays, DDI, Ernst&Young, Deloitte, GALLUP und anderen, dann haben viele Arbeitnehmer innerlich gekündigt und verspüren keine Verbundenheit mit ihrem Unternehmen. Ein großer Teil der Beschäftigten macht Dienst nach Vorschrift.

René Märtin: Und das stimmt besonders nachdenklich, weil unsere Welt sich im raschen Wandel befindet und wir mit enormen Herausforderungen umgehen müssen: Was als sicher und gewiss galt, gilt nicht mehr, tradierte Strukturen und organisationale Binnenwelten lösen sich rasant auf. Die Arbeitswelt wird zwangsläufig komplexer und segmentierter, flüchtiger, ungewisser, vielschichtiger, mehrdeutiger … »Woran kann ich mich noch halten« wird zu einer existenziellen Frage, gerade auch im Unternehmenskontext. Diese Frage betrifft alle Bereiche, dazu gehört auch das Thema Loyalität.

Georg Martensen: Die Lippenbekenntnisse zur sogenannten Mitarbeiterbindung sind jedenfalls ebenso laut, wie sie ungehört verhallen. Klar muss doch sein: Verbundenheit und Loyalität fußen auf freier Entscheidung des Einzelnen. Sie bezieht sich nicht zuletzt auf das Verhalten der unmittelbaren Führungskraft. Und dies ist im Regelfall maßgebliches Ergebnis der vorherrschenden Kultur. Auch dieser Befund ist seit langem stabil und chronisch. Genauso verlässlich ist aber das Ausbleiben effektiver Antworten darauf. Angesichts der erodierenden Strukturen in der Arbeitswelt, die Du zurecht ansprichst, wachsen die Bereitschaft und der Wille zu einem höheren Maß an Selbstverantwortung, zu Freiheit und Verantwortung im Unternehmen. Aber auch Angst und die Neigung zu Hilflosigkeit und Anhänglichkeit werden aktiviert.

Man kann die Gleichzeitigkeit und Ambivalenz gut an den Studienergebnissen der »Wertewelten Arbeit 4.0« ablesen. Diese sind schlicht Ausdruck der Mehrdimensionalität des Menschen. Das herrschende Paradigma aber hat keine differenzierten Antworten darauf: Organisationen und Führung flüchten sich allzu oft in paternalistische Reflexe und glauben sich zu Wohlfühlversprechen genötigt. Beantwortet wird so ausschließlich die Seite der psychodynamischen Angst, nicht des existenziellen Mutes. Wahrscheinlich, weil man dem jeweils anderen noch weniger vertraut – oder eben zumuten mag – als sich selbst. Die gemeinsame Frustration über das Führungsversagen ist letztlich dem Phänomenbereich kollektiver Irrationalität und der Self‐​fulfilling‐​Prophecies zuzuordnen. Dies aber legt den Weg fest auf eine Spirale wechselseitiger Abhängigkeiten, die zu Entgrenzung, Hyperinklusion und Selbstoptimierung führt. Dies hat dann mit freiwilliger Mitarbeiterbindung, mit Selbstverantwortung und Erfüllung in einer Aufgabe nichts mehr zu tun.

René Märtin: Die Themen, die Du nennst, sind ja so gar nicht Bestandteil etablierter Führungskonzepte. Niemand gibt gerne zu, dass existenzielle Fragen einen unmittelbaren Einfluss auf die Führungsrolle haben. Oder dass er sich innerhalb konkurrierender Loyalitäten oder vielfältiger organisationaler Rationalitäten mehrfach gebunden fühlt und unsicher. Bin ich der Geschäftsführung gegenüber loyal – oder meinen engsten Mitarbeitern? Was entscheidet mehr über den unternehmerischen Erfolg und wovon bin ich innerhalb der Organisation eigentlich wirklich abhängig? Viele erleben sich darin oft als verwickelt und gefangen. Und doch eint alle der Wunsch nach Kongruenz, Identität und Kontinuität innerhalb ihrer aktuell so unterschiedlichen professionellen Rollen. Ich erlebe das in meiner Praxis so, dass es Führenden wie Geführten zusehends an Orientierung mangelt, weil die Rollenerwartungen diffuser werden und die Strukturen sich verflüssigen. Führende und Mitarbeitende werden auf sich, auf ihr Verhältnis zueinander als Personen, auf fundamentale Daseinsfragen zurückgeworfen; auf Haltlosigkeit und Angst, Endlichkeit und Sinnlosigkeit, Verbundenheit und Einsamkeit, Authentizität und Zweifel, Freiheit und Verantwortung.

Georg Martensen: Ja, die Sehnsucht nach einem existenziellen Anker ist groß. Deswegen glaube ich, es geht nicht anders: Wir müssen Führungsthemen aus einer existenziellen Perspektive betrachten. Durch die gegenwärtigen Herausforderungen kommen die Menschen an den Rand ihrer Existenz, machen Grenzerfahrungen – gerade auch in den Unternehmen. Die existenziellen Zumutungen des Einzelnen finden zunehmend in der Organisation statt, nicht nur außerhalb. Es geht darum, den Menschen in seiner existenziellen Not aber auch in seinem existenziellen Vermögen zu sehen.

René Märtin: … und nicht allein in seiner Psychodynamik! Das fällt mir auf, dass holistische oder evolutionäre Organisationskonzepte zwar den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen, aber dabei gleich mehrere falsche Abfahrten nehmen: Die Betonung von Gefühlen und Befindlichkeiten, die Funktionalisierung der Sinnfrage, das totale Ausgreifen der Organisation auf den menschlichen Faktor. Die Orientierung jedes Mitarbeiters auf einen »Purpose« oder das Team als »Family«, erscheint mir dabei sogar noch recht harmlos. Bedenklicher finde ich, dass Menschen sich in einer Art Hyperinklusion vollständig dem Unternehmen hingeben sollen. Manche Organisationen wollen nichts weniger als den ganzen Mitarbeiter in Beschlag nehmen, ein fast schon totalitär zu nennender Übergriff. Gepusht sicher noch durch die ständige Verfügbarkeit im digitalen Zeitalter.

Georg Martensen: Dieser Reduktionismus auf Gefühle als Befindlichkeiten verpasst den Menschen in seinen eigentlichen Möglichkeiten und seinen Strebungen. Wenn sich beispielsweise in der Organisation für den Einzelnen ein Vakuum auftut und er die Frage stellt: »Wozu das alles?«; ist das zunächst mal sein existenzielles Thema, dann wird seine Sinnfrage hier adressiert. Meine Frage daraufhin wäre zunächst: »Gehört das wirklich hierher? Ist die Firma für deine Lebensthemen zuständig? Ist das jetzt Bestandteil unseres psychologischen Vertrags?« Der paternalistische Reflex ist: »Wir müssen den Leuten ein Sinnangebot machen«, der ökonomische Reflex ist, »weil die uns sonst von der Fahne gehen.«

Ich habe – offen gestanden – große Zweifel daran, dass dies die Aufgabe von Unternehmen und anderen wirtschaftlichen Organisationen sein kann. Ich denke, es muss darum gehen deutlich zu machen: »Was ist vor dem Hintergrund des unternehmerischen Anliegens mein Beitrag dazu?« – Nietzsches Satz, der von Viktor Frankl so formuliert wurde: »Wer ein Wozu hat, erträgt fast jedes Wie«, meint die eigene Entscheidung, die in einem eigenen Wozu gründet. Der Purpose Drive aber funktionalisiert dieses Wozu. Dies fokussiert zwar die Transzendenz, etwa auf ein aufgeladenes Unternehmensziel hin, übergeht aber den vorher notwendigen Schritt der Selbstdistanz und verzweckt so den Menschen in einer Abhängigkeit – und unterläuft so seine Entscheidung zu einer freien Verbundenheit. Das finde ich problematisch. Es zeigt aber exemplarisch auf, dass existenzielle Fragen des Menschseins in Organisationen auftauchen und wie sie – leider – oftmals beantwortet werden.

René Märtin: Ja, und Wellbeing Managers sollen dann den Gefühlshaushalt und die körperliche Fitness in Ordnung bringen, damit die Leistungsmotivation auch stimmt: »Was brauchst Du, um Dich an Deinem Arbeitsplatz wohlzufühlen? Teeküche, Obstkorb, Massagen … was darf es neben Sinnstiftung noch sein? Wir hätten noch Corporate Volunteering im Angebot …«. Darin drücken sich alles andere als Freiheit, Selbstbestimmtheit, Eigenverantwortlichkeit aus. Niemand hat gelernt, hier die existenzielle Dimension zu sehen. Darum muss es aber gehen: Das Wesentliche von Führung ins Licht zu ziehen und Konsequenzen für die Führungs‐ und Beratungspraxis auszuleuchten. Die Essenz kommt in den Blick, sobald Führung die Maske des Gefühlsmanagements fallen lässt, im begegnenden Dialog Gesicht zeigt und auf Fragen des Menschseins in Organisationen antwortet.

Georg Martensen: So verstehe ich das auch. Und das ist ja doch, was wir hier mit unserem Projekt »Existenzielle Führung« wollen: Wir beschreiben die Grundzüge einer existenziell verstandenen Führungs‐ und Organisationskultur, ihrer Anthropologie und ihrer Anwendung. Und dabei steht für uns nichts weniger als der emanzipierte, freie und eigenverantwortliche Mensch im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzung …

René Märtin: … und die Autonomie der Person zu achten, sie als »Zweck an sich selbst«, nicht nur als »Mittel zum Zweck sein« in Anspruch zu nehmen ist das ethische Fundament personaler Freiheit und Verantwortung. Es geht also um einen existenziellen Ansatz, der neue Perspektiven auf den Menschen in der Organisation eröffnet.