Führung existenziell verstehen Dekonstruierende und rekonstruierende Überlegungen zu ›Existential Leadership‹

Re‐​Entry der Eigentlichkeit ins System 

Re‐​Entry der Eigentlichkeit

Weil aber Organisationen zunehmend Komplexität ’surfen‹ müssen, anstatt sie zu beherrschen, müssen sie Neues lernen, schnell und flexibel agieren, situativ Strukturen, Rollen und Regeln infrage stellen, um innovativ zu sein. Dafür brauchen sie Zugriff auf sinnliche Wahrnehmung und Sensitivität, Kreativität, Widerspruchsgeist, Ambiguitäten prozessieren, Selbstdistanzierung und ‑transzendenz sowie situative Entschlossenheit und Verantwortung im Regelbruch[16]. Dies aber bezeichnet jene Fähigkeiten, die in der Freiheit des Menschen wurzeln. Das Freie im Menschen[17], jedenfalls, verstehen wir in der Tradition Viktor Frankls als Ausdruck der Person.

Organisationen müssen um ihres Selbsterhalts Willen also selbsterhaltende Strukturen verflüssigen und dem freien Menschen mehr Raum geben. Innerhalb der ehedem haltgebenden, nun dysfunktionalen Architektur wird der Einzelne angesichts der Not-Wendigkeit zur ›Selbst‐​Organisation‹ zunehmend mit den strukturellen Zumutungen des Daseins konfrontiert. Weil das ›Selbstsein‹ in Organisationen traditionell nicht gefragt ist, setzen Organisationen Menschen einem überraschenden Paradox aus: Plötzlich ruft das organisationale ›Man‹ den Einzelnen zur Ergreifung seines eigentlichen Selbstseins auf. – Systemtheoretisch gesprochen, handelt es sich um den Wiedereintritt der Differenz von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit in die Organisation.

Führung, die sich auf dieses Paradox versteht, kann als ›Existentielle Führung‹ einen wertvollen, einen konsistenten, nachhaltigen und glaubwürdigen Beitrag für die zukunftsfähige Gestaltung von Organisationen leisten. Von daher muss Führung insbesondere dort Position beziehen, wo sie sich – je nach unternehmensspezifischer Situation – innerhalb des Kontinuums zwischen einspringender und vorausspringender Fürsorge, zwischen beherrschender und freigebender Führung verorten will. Dafür muss sie sich zunächst selbstreflektiert und redlich Antwort darüber geben, was sie bezweckt. – Und dafür sollte sie wissen, was sie auf die eine oder die andere Weise bewirkt.

In existenzieller Perspektive erfordert dies zu verstehen, dass der Einzelne ›in der Organisation ist‹, so wie er auch ›in der Welt‹ ist: nämlich im Mitsein. Oder anders gesagt, entweder im Modus ›uneigentlicher Existenz‹ oder im Modus ›eigentlichen Selbsteins‹. Er ist – existenziell verstanden – der Organisation nicht etwa als Subjekt oder Individuum gegenüber[18] und auch niemals ein Teil davon.

Sofern Organisationen ernsthaft die Sensitivität ihrer Mitglieder als Bereicherung begreifen, und nicht als Ressource, aus der Führung ›das Beste rausholt‹, wird eine andere Form der Kopplung geradezu zwingend. Das aber heißt, dass dem Einzelnen sehr viel größere Bedeutung zukommt und er als solcher je gefragt ist. Dafür braucht es ›Raum und Zeit‹ und Resonanz im Miteinandersein. Und es braucht eine Kultur, die dem Einzelnen etwas zutraut und zumutet, die ›Haltung‹ ermutigt anstelle von Erwartungskonformität. Nicht zuletzt erfordert dies aber ein gewisses Maß an Nüchternheit und Respekt, das dem Einzelnen nicht zu sehr ›auf die Pelle‹ rückt, und auf Wohlfühlprogramme und allerlei Mätzchen verzichtet, wie etwa Happiness‐​Beauftragte, »zertifizierte Glücks‐​Ökonomen«[19] und Kindergeburtstag[20]. Und darauf, etwa auf den ›ganzen Menschen‹ ausgreifen und ihn zu einem Teil der Organisation machen zu wollen.

Es braucht – jedenfalls – mehr freigebende Führung. Führung, die den Anderen mit der rechten Sachlichkeit in seiner Freiheit für ihn selbst freigibt. – Dann kann er auf dieser Ebene auch in freier Verbundenheit antworten und sich selbst für Ziele und Zwecke der Organisation einbringen.

So verstanden ist existenzielle Führung – ›Existential Leadership‹ – die Kunst einer den Menschen freigebenden Kopplung mit der Organisation. Zu solchem Verstehen von Organisation und Führung kann existenzielles Denken wertvolle Beiträge leisten!