Führung existenziell verstehen Dekonstruierende und rekonstruierende Überlegungen zu ›Existential Leadership‹

Warum Existenzphilosophie?

Warum also Existenzphilosophie?

Die Autoren selbst stellen gleich zu Beginn die zweifellos berechtigte und zentrale Frage: »Warum also sollten Transformationsprozesse existenzphilosophisch analysiert, reflektiert und gestaltet werden?« (27)

»Weil«, so die Antwort, »in einem Transformationsprozess … das Unternehmen zur Existenz« kommt, die in seiner Essenz bereits angelegt ist (ebd.).

Der essenzialistische Grundgedanke, der, wie bereits ausgeführt, das gesamte Werk durchzieht, wird durchgängig als »existenzphilosophisch« oder als »existenziell« apostrophiert.

Auch dem ist – zumindest hinsichtlich der Berufung auf die Existenzphilosophie – grundlegend und begründet zu widersprechen:

»Die Existenzphilosophie … ist aus einer Kritik an der klassischen Wesensmetaphysik hervorgegangen, die den Akzent auf den Begriff des Menschen und Definitionen unveränderlicher anthropologischer Wesensmerkmale legte, unter Absehung vom geschichtlichen und sozialen Kontext, in welchem der Einzelne sich als existierende individuelle Person in seiner einmaligen Besonderheit herausbildet. Die Betonung der existenzia gegenüber der essentia sollte die Eigenleistung des Individuums ins Licht rücken, das nicht je schon ist, was es ist, sondern es selbst wird, indem es sich zu dem macht, das es ist.« (Pieper, 2007, S. 87).

Kierkegaard beschreibt Existieren als den Vorgang der Aneignung von Möglichkeiten als Entscheidung für einen Selbstentwurf. Bei Nietzsche trifft der Mensch keinen vorgegebenen Sinn, sondern Chaos. Die Vorgängigkeit der Existenz vor der Essenz bei Sartre ist Legende. Heidegger betont in der Analyse des Daseins den Vorrang der Existenz vor der Essenz. Anders als die Sachen, ist der Mensch nicht auf ein Wesen festgelegt, nicht auf ein vorgegebenes Ideal, das er dann mehr oder weniger gut verwirklichen kann. Das Wesen des Menschen ist sozusagen, dass er keines hat: »Das ›Wesen‹ dieses Seienden liegt in seinem Zu‐​sein. Das Was‐​sein (essentia) dieses Seienden muß, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden. … Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung, … (es) ist je seine Möglichkeit … (und) kann … sich selbst ›wählen‹.« (SuZ, S. 42f.; Hvh. dV.). Die beiden Charaktere des Daseins nach sind Heidegger: »einmal der Vorrang der ›existenzia‹ vor der essentia und dann die Jemeinigkeit.« (Ebd.).

Auch bei Jaspers findet sich »Existenz ist nicht Sosein, sondern Seinkönnen« und eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von das »Allgemeine und das Individuum« und »Wesen und Wirklichkeit«.  Im Ergebnis betont er die Möglichkeit des Daseins als Existenz, die sich allein als ein nicht festgelegtes Werden aus den individuellen je eigenen Entscheidungen ergibt. (KJG I/​13, S. 186).

Im Zentrum der Existenzphilosophie steht die Seinsweise des individuellen, einmaligen Menschen. Statt nach einem allgemeinen ›Wesen‹ des Menschen zu fragen, bezieht sie sich »auf den Einzelnen, der in einer konkreten, historischen und sozialen Welt unvertretbar sein je eigenes Leben zu führen hat. … Der Begriff der Existenz bedeutet im Kontext dieser Ansätze eine Absetzung gegen die metaphysische Tradition, welche Existenz im Sinne der bloßen Tatsache, dass etwas ist, versteht und von der ontologisch entscheidenden Essenz (Wesen, Ousia, Substanz) als der Bestimmung, was etwas ist, unterscheidet.« (Sattler, 2019).

Was – eigentlich – ist Existieren?

»Existieren«, lernen wir bei den Autoren, »ist eine Seinsform, in der der Mensch … heraustreten kann aus dem unmittelbaren Bann des Verflochtenseins mit der Welt … und den Menschen« und »er kann dank der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung zwischen sich und … den Dingen … Distanz schaffen. Das gibt ihm Bewegungsspielraum … er … kann darüber verfügen« (47).

Gemeint ist hier offenkundig eigentliches Selbstseinkönnen, verstanden als authentische Lebensführung, also eine besondere Form des personalen Selbstbezugs im Unterschied zur Uneigentlichkeit des Daseins. Die Autoren nehmen hier ausdrücklich Bezug zu Heidegger (158).

Nach diesem aber ist das Selbst eine Weise zu existieren, nämlich so, »dass sich das Dasein eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm Selbst.« (SuZ, S. 268). Und dieses Sich‐​zurückholen aus dem Man geschieht als Nachholen einer Wahl, also einer verantworteten Entscheidung, aus der Entschlossenheit heraus. Das Dasein also selbst wählt sein Sein können: Es wird hierin weder durch eine ›wesenhafte‹ Vorfestlegung bestimmt, noch lässt es sich durch das Man bestimmen. Doch geschieht dies gerade nicht in der Ablösung vom Rest der Gesellschaft, sondern in bewusstem Bezug darauf: »Auch der Entschluß bleibt auf das Man und seine Welt angewiesen. … Der Entschluß entzieht sich nicht der ›Wirklichkeit‹ sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, dass er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.« (SuZ, S. 299).

Auch hat dies nichts mit der Idee zu schaffen, dass durch innere Einkehr ein vorrangiger Zugang zum Selbst gelegt werden könne. So hat etwa der »Gedanke der Introspektion … nur einen Sinn, wenn vom … Subjekt ausgegangen wird, das einer ›Außenwelt‹ gegenüberstehend gedacht wird. Das Dasein hat … keine Introspektionsmöglichkeit, wie es für das Dasein auch keine ›Außenwelt‹ gibt.« (Luckner, 1997, S. 30f.).

Dem Dasein geht es im Selbstseinkönnen also gar nicht darum, dass es sich darin in einer Innerlichkeit versteigt, auf Distanz geht und von dort aus über die Welt und die Menschen verfügt. Nein: Selbstseinkönnen heißt, sich die in den gesellschaftlichen Verhältnissen bestehenden Möglichkeiten, in die es eingebunden ist und bleibt, souverän zu Eigen und der Person zugehörig zu machen. So ist Selbstseinkönnen – jedenfalls existenzphilosophisch – zu verstehen als klares Bewusstsein der unaufhebbaren ›Einheit der Differenz‹ von Person und Gesellschaft.

Selbstdistanz ist nicht Weltdistanz!

Von hier aus darf man wohl auch mit anhaltendem Unverständnis darauf blicken, dass seitens der Autoren die Fähigkeit zur ›Selbstdistanzierung‹ als ein Vermögen interpretiert wird, welches in der Betonung eigener Innerlichkeit eine Distanz zwischen sich und den offenkundigen Bedrängnissen eines ›Verflochtenseins‹ mit der Welt und den Menschen schafft. Anders herum wird noch immer ein Schuh draus: Selbstdistanz, also das von sich und den eigenen Bedrängnissen Absehenkönnen, ist – jedenfalls – im Sinne Frankls die notwendige Fähigkeit, um sich sinnvoll und hinreichend auf das Eingebundensein in die Welt beziehen zu können und – von dort her – seinen Platz zu finden.

Essenz nicht Existenz!

Der Berufung der Autoren auf die Existenzphilosophie muss daher insgesamt und begründet widersprochen werden:

Das Umdeuten von Essenz und Existenz ist unter Bezugnahme auf existenzphilosophisches Denken unzulässig. Es untergräbt die Existenzialien der Fundamentalontologie, unter anderem das In‐​der‐​Welt‐​Sein und das Mitsein. Gerade diese sind Ausgangspunkt und daher konzeptionell unverzichtbar für die Überwindung der Subjekt‐​Objekt‐​Spaltung. Und genau die wird hier vorliegend – quasi durch die Hintertür – wieder eingeführt. Dieser Zug hat fatale Konsequenzen, weil im Gewand existenzieller Rhetorik einer wesenhaften, ontologischen Konzeption des Daseins der Wiedereintritt verschafft wird. Und diese öffnet dem als überwunden behaupteten cartesianischen Denken die Tore. – Existenzielles Denken wird so nicht etwa Gegenstand einer nachvollziehbaren kritischen, ggf. dekonstruierenden und den Menschen von Festlegungen und Zwecken befreienden Auseinandersetzung. – Im Gegenteil: Der Begriffsapparat wird zweckentsprechend angeeignet und in sein Gegenteil verkehrt. Auf der Strecke bleibt ›der Mensch‹, der mithilfe substanzmetaphysischer Zuschreibungen und anthropologischer Fixierungen der Zweckmäßigkeit von Maßnahmen anheimgegeben wird. Dies mag dann irgendeiner Zielerreichung dienlich sein. Jedoch ist ist es im »Schaffen eines übergeordneten Gemeinsamen« (129) längst nicht mehr anfragbar, weil es schon eilig »dem Ruf der Zukunft« (136) folgt.