Führung existenziell verstehen Dekonstruierende und rekonstruierende Überlegungen zu ›Existential Leadership‹

Konzeptionelle Würdigung

II. Konzeptionelle Würdigung

Descartes überwinden!

Schon die ersten zwei Sätze des Vorworts von Rainer Esser (DIE ZEIT‐​Geschäftsführer) setzen einen hohen Ton und eine anspruchsvolle Programmatik, die aufhorchen lassen:

»Die cartesianische Trennung von Geist und Materie«, so heißt es dort völlig unvermittelt, »ist … überwunden.« (9). In der ›Unternehmensanschauung‹ sei inzwischen klar, dass die Betrachtung allein der sachlogischen Ebene ihre Grenzen habe, und dass vielen Unternehmenslenkern ein tieferes Fundament für ihr Handeln fehle.

Nichts weniger als die Überwindung dieses ehernen Dualismus verspricht uns von daher das vorliegende Buch: ›Existential Leadership zum Erfolg‹ setzt an diesem Punkt an, »indem es Leadership von existenzphilosophischen Grundlagen herleitet« (ebd.). Es zeige auf, dass Humanisierung der Arbeit – diese ist »ein freundlicher zugewandter Umgang« – die Leistungsfähigkeit von sozialen Systemen nachhaltig steigere. Weil nämlich ein »stärkeres Bewusstsein von Führungskräften für menschliche und zwischenmenschliche Fragen … viel brachliegendes Potenzial … in positive Energie und Ergebnisse verwandelt.« (ebd.).

Die Einleitung der Autoren nimmt diesen Faden auf und spinnt ihn sogleich weiter. Ihr Anliegen beschreiben sie so: Sie wollen »zwei Fakultäten zusammenführen, die … getrennte Wege gegangen sind: Philosophie und Leadership« (11).

Wie aber ist vorzugehen, um diesen Dualismus zu überwinden: Leadership von der Existenzphilosophie her‐ und auf einen gemeinsamen Weg hinzuleiten? Auch hierauf gibt es eine entschlossene, eine klare Antwort: Die »Verbesserung der Leadership muss von einer Disziplin ausgehen, die am Fundament ansetzt … – der Philosophie.« (ebd.). Und noch konkreter: der »systematische Einbau der hermeneutischen Phänomenologie« eröffnet »die Möglichkeit, einen Meilenstein in der Leadership‐ und Transformationstheorie zu schaffen.« (13 f.). »Erst« solches, so heißt es weiter, biete »die Gewähr dafür, dass … eine für Unternehmenstransformationen und Leadership notwendige und nachhaltige Psychologie … den ganzen Menschen in den Blick nimmt.« (12). »Der Mindset bestimmt die Wirkung der Führungskraft …, in entscheidenden Momenten nachhaltig seine Möglichkeiten abzurufen.« (ebd.).

Ihr Angebot beschreiben die Autoren folglich nicht wenig anspruchsvoll als »eine nicht versiegende Quelle von Inspiration, Energie und Kreativität« in der Beantwortung der »drängenden Fragen unserer Zeit« und darin, dem »Wesen des Menschen bei der Arbeit gerecht zu werden.« (14f.).

Worauf, nun aber, soll er sich gründen, der ambitionierte Anspruch einer nach Orientierung suchenden ›Leadership‹ innerhalb hermeneutischer Phänomenologie und Existenzphilosophie, die ja ihrerseits darauf bestehen müssen, zunächst von allem mitgebrachten Wissen abzusehen? Auf welchem Punkt soll man den Hebel abstützen, um ein nicht wenig anspruchsvolles Unterfangen wie dieses als Vorhaben ins Werk zu setzen? – Die Antwort finden wir bei Edmund Husserl: Es ist »[das] Wesenseigentümliche der anfangenden Philosophie …, daß sie … einen Boden … prinzipiell ausschließt. Sie muss also bodenlos anfangen.« (Hua, VI, S. 185). Haltlos beginnen, bildet folglich den wichtigsten Grundzug existenziellen Philosophierens, der Phänomenologie, die den Geist der Gründlichkeit, der absoluten wissenschaftlichen Redlichkeit und programmatischen Radikalismus einfordert (vgl. Steiner, 1997).

Gemessen am eigenen Anspruch vollziehen die Autoren – allerdings unter unablässigem Ausrufen existenzieller und existenzphilosophischer Parolen – eine unerwartete Volte. Denn sie stellen tatsächlich fest, wo, an welcher Stelle der Hebel anzusetzen ist, damit das gewünschte Ergebnis resultiert: »Der archimedische Punkt«, so heißt es in unverhohlen wieder eintretender cartesianischer Manier[1], »ist die Leadership der Menschen, die unternehmerische Verantwortung tragen« (11). Und es »werden die Grundzüge eines Transformationsprozesses beschrieben sowie auch der archimedische Punkt, der darüber entscheidet, ob eine Transformation scheitert oder nicht.« (19).

Damit ist die Versuchsanordnung entsprechend formuliert: Konzeptionell sind erklärende (Leadership) und abhängige Variable (Performance) bestimmt. So kann das Optimierungsprogramm starten. Aber woraufhin soll der Transformationsprozess ausgerichtet sein, damit Leadership richtig Maß nimmt, um die richtigen ›Maßnahmen‹ zu ergreifen? Und woran bemisst sich der Erfolg von ›Existential Leadership zum Erfolg‹?

In konsequenter Anwendung zweckrationaler Methodik braucht es nun zunächst eine Abweichungsanalyse, die innerhalb eines etwa gedachten cartesischen Kreuzes einen Nullpunkt definiert und ausgehend von einem IST‐ und einem SOLL‐​Zustand überhaupt einen Handlungsbedarf begründet und einen Gestaltungsraum eröffnet: »Die Grundfrage lautet hier: Wo sind wir jetzt und wo wollen wir hin?« (19). Aber so einfach ist das natürlich nicht mit »reflexartige(r) Managerlogik von Ist und Soll«, wenn, wie hier, »der Weg zum Unternehmenserfolg … nur über das Zwischenmenschliche« geht (20).

Werde, der du bist!

Dies ist eine kritische Wegmarke. Und hier schlagen die Autoren einen Pfad ein, dessen Spur sich nun wie ein roter Faden durch die Textur des gesamten Werks weben wird und ihm Struktur, konzeptionellen Halt und Ausrichtung gibt. Sie treffen eine fundamentale anthropologische Entscheidung:

Die »kulturell‐​psychologische Seite der Transformation führt … zu einem Menschenbild und einem Entwicklungsverständnis, das auf dem Pindar’schen Satz … aufbaut: ›Werde, der du bist‹ – indem du von deinen Wesensanlagen und Möglichkeiten her in das hineinwächst, was du sein könntest. … Diese antike Version des Begriffs Potenzial ist die Grundlage für die Wachstumsphilosophie von Leadership in Transformationsprozessen.« (21)[2]

Der Essentialismus[3] ›durchwest‹ fortan das gesamte Buch und alle Akteursebenen:

Es wird gar ein »gesetzmäßiger Zusammenhang« von Form und Essenz postuliert, danach »die gegenwärtige Form die Verwirklichung der Möglichkeiten ist, die in der Essenz, im Wesen des Unternehmens, … im Einzelnen, in den Teams und im Unternehmen als Ganzes angelegt sind.« (20f.). »Das Wesen«, heißt es weiter, »ist …  ›Sub‐​Stanz‹, liegt den Formen zugrunde … ist daher bedeutend dauerhafter als seine Erscheinungsweisen.« (21). Der Ist‐​Zustand sei daher nur »die gegenwärtige Form, in der bereits die Zukunft angelegt ist, und das Potenzial ist die Essenz. In ihr steckt das Wesen, das … sozusagen in ›Hoch‐​Form‹ gebracht wird«. (22). So ist, ausgehend vom IST das SOLL »eine in der Essenz inhärent angelegte Möglichkeit (so wie im Samenkorn die Möglichkeit eines Baums angelegt ist)« (ebd.).

Und folglich »geht es … um die Rück‐​Führung in diejenige Form, die dem Unternehmen zugedacht ist …, um das zu bleiben, was das Unternehmen dem Wesen nach ist.« (S. 30). Der Prozess der Transformation ist ausgelegt auf die »Umwandlung in die nächsthöhere Existenzform, die im Unternehmen angelegt ist und geboren werden will« (31). Und dieser Gedanke ist nicht allein auf die Organisation beschränkt: Er »gilt auch für das Individuum. Durch einen Transformationsprozess kommt das Wesen der Menschen … mehr zum Vorschein.« (ebd.).

Führung zu Pferde

Bleibt noch die Rolle von Leadership zu klären:

Auch das geht relativ fix, denn Führung sorgt kraft höherer Einsicht als zentrale Instanz für den Anschluss an eine kosmologische Ordnung, wirkt gegen bedrängendes Chaos und stellt sich mutig und entschlossen Fehlentwicklungen entgegen, die aus der Verfehlung des Wesentlichen drohen könnten:

Denn erstens »kann der systemische Grundsatz gelten: Was in einer Geschäftsleitung nicht passiert, passiert nirgendwo im Unternehmen« (25).

Zweitens sind »Führungscrews … bei Transformationen systemisch betrachtet ›Eltern des Systems‹ … verantwortlich für die Ordnung. Ordnung bringt Zug – Chaos hingegen lähmt.« (S.26).

Und drittens ist das Verfehlen der Wesensentsprechung eine »Entfremdung«, und eine »Entwicklung, in der das Unternehmen nicht zu dem wird, als was es im Kern angelegt ist und woraus es im Wesen besteht, … eine Fehlentwicklung.« (21).

Eingespannt ins Prokrustesbett von IST und SOLL des Transformationsprozesses kann ein solcher Blick in die Welt dem Sein nicht das Werden überlassen, es natürlich nicht der Schwebe einer Selbstentwicklung anheimstellen. Daher braucht es nicht nur die Verankerung in einem wohldefinierten Ausgangspunkt, sondern auch noch eine Erkenntnis vom Ergebnis her, eine teleologisch leitende Konzeption. Man benötigt also noch die Referenz eines wesensmäßig schon waltenden Fixpunktes der Entwicklung, eine causa finalis, auf die hin sich alles, und das heißt: als kollektive Ganzheit ausrichtet, wenn es denn gut und richtig werden soll. So ist der Rest dann schnell gemacht: Der Finalität der Organisation kommt man auf die ›Spur‹ durch das subjektive Er‐​Spüren jener Werte, »die emotionale Zugkraft entfalten.« Denn »…Unternehmenswerte … (s)tehen (mit) … einem Transformationsprozess in einem engen Zusammenhang, weil … eine Weiterführung ihres aktuellen Bestandes die Zukunft darstellt.« (55).

Die Zügel für Gespür und Geschick liegen praktischerweise in einer Hand: »Ein CEO trägt das Unternehmen mit seinen Werten, und wenn die Unternehmenswerte nicht in Einklang stehen mit seinen Werten, besteht Handlungsbedarf«. Um Chaos abzuwenden und kosmische Gravitationskräfte kraft eigener Gravität zu erzeugen, soll der ›Leader‹ als »authentische Autorität zu sich stehen, … dafür kämpfen, sich einsetzen und sich durchsetzen.« (58). Führung ist demzufolge als transformationale, charismatische und heroische Führung ausgelegt. Diese ist ausgestattet mit der höheren Legitimation eschatologischer Einsicht und dem Wissen um das Kommende. Leaders erscheinen als Hohe‐​Priester des sich Ankündigenden: Sie sind hier wörtlich »Anwälte für das, was noch nicht ist«, sind »Für‐​Sprecher der Bestimmung‘« (23). Weil allein »Leader … Träger unternehmerischer Gesamtverantwortung« (63) sind. – Mit anderen Worten: sie sind Weltgeister zu Pferde, die einer ungewissen Zukunft das Zaumzeug überwerfen.

Da nun der Weg der Erkenntnis und die einzuschlagende Richtung für die Transformation dem Grunde nach geklärt sind und auch der für das Kollektiv entscheidende Akteur, nämlich ›der Leader‹, identifiziert ist, kann das ›Optimierungs‐​Programm‹ gestartet werden:

Wir finden als konzeptionelle Konstruktion zunächst eine auf der existenzanalytischen Strukturtheorie der vier Grundmotivationen des Menschen aufbauende und zweckentsprechende Modifizierung sowie deren Verschränkung mit der Prozesstheorie der Personalen Existenzanalyse (PEA) vor. Die »vier Stadien der Transformation wurden … durch das Modell der vier Grundmotivationen … zu einer grundlegenden Psychologie der Transformation ausgestaltet.« (12f.).

Der eigentliche Kniff aber besteht darin, die anthropologische Fixierung der vier Grundmotivationen aus ihrer ursprünglichen Simultanität herauszulösen (66, 130), sie quasi ›entwicklungspsychologisch‹, also zwangsläufig, aufeinander aufbauend neu zu fixieren und sodann in einem simplen Analogieschluss auf ganze Organisationen anzuwenden. Diese werden nun wiederum allein durch ihre Führung repräsentiert: »Denn ein Unternehmen hat keine Werte, weil das Unternehmen keine Person ist. Das Unternehmen ist genau genommen die Struktur, die den Raum für Werte gibt. Weil Unternehmen und Person zwei unterschiedliche Kategorien sind, kann es bei Werten immer nur um die Werte der Unternehmensverantwortlichen gehen.« (56).

Dies entspricht ganz und gar der hier (53) offenkundig hintergründig wirkenden Werteethik Max Schelers, wonach »unter Umständen … ein einziger Mensch (genügt), damit wir in ihm das Wesen dieser Werte erfassen können« (Scheler, 1916, S. 9).  Und so gelingt es, abstrakte, komplexe, vielschichtige, dynamische und grundsätzlich unverfügbare Wesenheiten, wie Unternehmen und Organisationen, diese mittels einer zügelnden Handbewegung der Leadership‐​Figur anthropomorph zu fassen und in der schon zitierten – in der Tat – ›unglaublichen Komplexitätsreduktion‹ unterkomplex zu vereinfachen. In der repräsentierenden und gestaltenden Figur des ›Leaders‹, in der alles zusammenläuft, aggregiert und handhabbar gemacht wird, kann in analoger Anwendung und mit Hilfe bereits etablierter subjektpsychologischer Methodik das Unternehmen als ein Wesen, eine Ganzheit, gesehen und entlang der Prozesstheorie der ›Personalen Existenzanalyse‹ (PEA) ›behandelt‹ werden. (37ff.).