Die ›Realität‹ ist uns einsichtig – in der Abbildung unserer Modelle
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Die ›Realität‹ ist uns einsichtig – in der Abbildung unserer Modelle
Allein vor diesem Hintergrund wird schon deutlich, dass etwa ein Modell existenzieller Dimensionen oder Daseinsstrukturen, wie es soeben skizziert wurde, und auf das im folgenden Bezug genommen wird, letztlich jeweils nur als Heuristik angenommen und respektiert werden sollte, die ein gemeinsames Verständnis, ein gemeinsames Bild, einen common ground schafft. Derartige Modelle stellen jeweils den Versuch dar, die Komplexität, Dynamik, Interaktivität und Responsivität menschlichen Daseins innerhalb ihres sozialen Zusammenwirkens greifbar zu machen. Sie versprachlichen eigentlich Unsagbares und bilden das nicht offen Ersichtliche ab.
Nicht anders verhält es sich mit dem Strukturmodell der sogenannten vier Grundmotivationen, das etwa Längle (1999) uns anbietet, oder der Konzeption der vier Grundsorgen des Menschen, von denen der ansonsten recht sinnenfrohe Irvin Yalom annimmt, dass menschliche Existenz sich immer gründet auf letzte Anliegen und Besorgnisse: Die der eigenen Endlichkeit, der Freiheit, der Isolation und der Sinnlosigkeit im Angesicht einer auf unsere Sinnfragen nicht antwortenden Welt. (vgl. Reitinger & Bauer, 2019, S. 336). Vergleichbar sind mit unterschiedlichen Akzenten im Übrigen das Modell der vier ›Grundformen der Angst‹ von Fritz Riemann (2002), die ›vier Seiten einer Nachricht‹ von Friedemann Schultz von Thun (1998) oder die von Klaus Grawe (2000) postulierten ›vier Grundbedürfnissen des Menschen‹, um nur einige zu nennen.
Diese Modelle machen das, was wir als Menschen ›irgendwie‹ schon verstehen, uns verständlich, indem wir es aus unseren singulären, etablierten Heuristiken heraus‐ und innerhalb eines Teams in ein gemeinsam geteiltes reflexives Bewusstsein hinüberführen (vgl. Kahnemann, 2019), das mit zunehmender Routine als ›Dynamikrobustheit‹ in die ablaufenden Prozesse integriert wird.
Die von Binswanger und von van Deurzen geprägten existenziellen Kategorien ›Umwelt‹, ›Mitwelt‹, ›Eigenwelt‹, ›Überwelt‹, oder die mit eher subjektivistischen Effet von Alfried Längle (1999) annoncierte Variante der existenzanalytischen vier Grundmotivationen, sind nicht mehr, eben aber nichts auch weniger als Kästchen, also Strukturen, innerhalb derer sich eine jeweils mehr oder wenige große Vielfalt und Tiefe an existenziellen Gegebenheiten des Menschseins in der Welt und Überlegungen zu unseren jeweiligen Bedingtheiten befinden. Diese Conditio humana teilen wir als Menschen alle miteinander, die uns als miteinander Geteiltes aber zugleich nicht Aufteilbares gegeben ist. Das zumindest vorläufige Einverständnis zu diesen ›Gegebenheiten‹ ist gewissermaßen die vorausliegende Bedingung, die zum Mitgehen der weiteren Lektüre dieses Artikels erforderlich ist.
Oftmals wird existenzielles Denken stark assoziiert mit sogenannten »negativen Emotionen«, (Hanaway, 2020, 7 f.), was zweifellos die Wahrnehmung des Publikums und dessen Bereitschaft prägt, sich mit derartigen Themen ernsthaft und ohne Angst und Vorbehalte auseinanderzusetzen und deren Erkenntnistiefe zu rezipieren.
Da liegen – zumindest was den Aufmerksamkeitsfaktor betrifft – die dürren Konzepte der Spaßkanonen, der Chief‐Happyness‐Officers, Glücklichkeitsminister und Wohlfühl‐Beauftragten und der Leadership‐Influencer (vgl. Palmer & Hargreaves, 2021) zurzeit besser im Rennen. – Ob sie den langen Atem haben, der aus der Tiefe der Kraft des menschlichen Verstehens schöpft, darf angesichts des Eventisierungscharakters, der offenkundigen Inszenierungen und der Halbwertszeiten von Managementmoden füglich bezweifelt werden.