Quijote und Pansa – Doppelfigur mit Weltzugang
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Quijote und Pansa – Doppelfigur mit Weltzugang
Georg Lukács (1916, S. 395) gibt uns Einblick in die Zeit, in der Cervantes das Werk schuf. Dieser erste große Roman der Weltliteratur steht »am Anfang der Zeit, wo der Gott des Christentums die Welt zu verlassen beginnt; wo der Mensch einsam wird und nur in seiner nirgends beheimateten Seele den Sinn und die Substanz zu finden vermag; wo die Welt aus ihrem paradoxen Verankertsein im gegenwärtigen Jenseits losgelassen, ihrer immanenten Sinnlosigkeit preisgegeben wird. … Es ist die Periode … der großen Verwirrung der Werte bei noch bestehendem Wertsystem. Und Cervantes … hat gestaltend das tiefste Wesen dieser dämonischen Problematik getroffen: daß das reinste Heldentum zur Groteske, der festeste Glauben zum Wahnsinn werden muß, wenn die Wege zu seiner transzendentalen Heimat ungangbar geworden sind; daß der echtesten und heldenhaftesten, subjektiven Evidenz keine Wirklichkeit entsprechen muß. Es ist die tiefe Melancholie des historischen Ablaufs, des Vergehens der Zeit, die daraus spricht, daß ewige Inhalte und ewige Haltungen ihren Sinn verlieren, wenn ihre Zeit vorbei ist; daß die Zeit über ein Ewiges hinweggehen kann. Es ist der erste große Kampf der Innerlichkeit gegen die prosaische Niedertracht des äußeren Lebens und der einzige Kampf, in dem es ihr gelungen ist, nicht nur unbefleckt aus dem Kampf herauszugehen, sondern selbst ihren siegreichen Gegner mit dem Glanz ihrer siegreichen, wenn auch freilich selbstironischen Poesie zu umgeben.«
Frerichs (2016) betont an dieser Stelle die zeitgeschichtliche und – unseres Erachtens allerdings nur zu einem Teil – inhaltliche Parallelität zu Shakespeares Hamlet: »Die Helden der shakespeareschen Dramen erfüllen ein Schicksal, das durch die Widersprüche ihrer Zeit evoziert wird. Insbesondere Hamlet, ein reflektierender Melancholiker, spürt, dass eine ewig geglaubte Ordnung zerbrochen ist und jeden Sinn verloren hat. Während der Mensch im Rahmen festgefügter Ordnungssysteme Geborgenheit und Bestätigung findet, erlebt er jetzt einen Zustand der Auflösung und Sinnentleerung. Hamlet, der auf diese Entwicklungen überaus sensibel reagiert, verliert den Bezug zur Wirklichkeit und gerät nach und nach in eine lebensbedrohende Isolation, aus der kein Weg zurück möglich scheint. In diesem Zustand wird der festeste Glaube zum Wahnsinn, da der subjektiven Wahrnehmung keine objektive Wirklichkeit mehr entspricht.«
Hamlet repräsentiert das grüblerische, melancholische, widerspruchsvolle Wesen des erwachenden Subjekts der Moderne. Er lebt, nur scheinbar ähnlich wie Quijote, isoliert in seiner eigenen Welt. Hamlet ist der Welt überdrüssig; »sie ist ihm ein wüster Garten, … … ist alles ekel, schal, flach und unersprießlich. Hamlet ist zu keiner Handlung mehr fähig, nicht weil ihm der Mut fehlt, sondern weil er jegliches Handeln für sinnlos erachtet. Seine Distanz zur ihn umgebenden Lebenswelt ist zu groß geworden. Er kann sie auch durch eine Art höheren Bewusstseins nicht überbrücken; jeder Ausweg scheint ihm verschlossen zu sein.« (ebd.).
Doch anders als Hamlet mangelt es Quijote nicht an einem Alter Ego, das ihm ein Gegenüber in der Welt ist und das ihn vor der Verzweiflung bewahrt! Hamlet stürzt, anders als Quijote, im Höhenflug seiner Bindungslosigkeit endlich in tiefste Verzweiflung, in Depression und Katatonie.
Unseres Wissens nach ist es Heinrich Heine (1976, S. 165), der als erster darauf verweist, dass Cervantes mit Quijote und Pansa eine Doppelfigur geschaffen hat, die es ihm ermöglicht, beide Gestalten in ihrer Interaktion in einer gemeinsamen Welt darzustellen und so das eingangs erwähnte Dialogische Prinzip zu betonen und zur Entfaltung kommen zu lassen, in dem sich ihre Vielgestaltigkeit aus diametral unterschiedlichen Seinsweisen und Gestimmtheiten erschließt und so der Verengung solipsistischer Selbstbezüglichkeit entgehen kann:
»Was nun jene zwei Gestalten betrifft, die sich Don Quijote und Sancho Pansa nennen, sich beständig parodieren und doch so wunderbar ergänzen, daß sie den [sic!] eigentlichen Helden des Romans bilden, so zeugen sie im gleichen Maße von dem Kunstsinn wie von der Geistestiefe des Dichters. Wenn andere Schriftsteller, in deren Roman der Held nur als einzelne Person durch die Welt zieht, zu Monologen, Briefen oder Tagebüchern ihre Zuflucht nehmen müssen, um die Gedanken und Empfindungen des Helden kundzugeben, so kann Cervantes überall einen natürlichen Dialog hervortreten lassen; und indem die eine Figur immer die Rede der andern parodiert, tritt die Intention des Dichters um so sichtbarer hervor. … weder in den Meisterwerken anderer Künstler noch in der Natur selber finden wir die erwähnten beiden Typen in ihrem Wechselverhältnisse so genau ausgeführt wie bei Cervantes. Jeder Zug im Charakter und der Erscheinung des einen entspricht hier einem entgegengesetzten und doch verwandten Zuge bei dem andern.« (kursiv d.V.).
Während Quijote also der Gesellschaft Entwürfe von Freiheit und menschlicher Würde entgegenstreckt, wird Pansa weitestgehend als ein typischer Repräsentant des Realitätsprinzips, der Anpassung und des Opportunismus eben dieser Gesellschaft gesehen. Er gehört zu denen, »die nur glauben, was sie anfassen oder schmecken können. Der stets auf seinen Vorteil bedacht ist und alles danach abwägt, ob ihm etwas nützt oder schadet. Ein Vorläufer des Homo oeconomicus; gepaart mit einer Portion Fatalismus. So verkörpert die Figur Sancho Pansas nicht nur plumpe Volkstümlichkeit, gleichzeitig steht sie für einen neuen gesellschaftlichen Typ, der sich dem sogenannten gesunden Menschenverstand und einer erstaunlichen Portion an berechnender Schläue verdankt.« (Frerichs, a.a.O.).