Von Hamsterkäufen bis zur Triage: der schwierige Umgang mit Schuld

Die Triage als ultimative Herausforderung für den Einzelnen, für die Gesellschaft

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Die Triage als ultimative Herausforderung für den Einzelnen, für die Gesellschaft

Deutschland könnte bald etwas erleben, was in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos ist: Bei einer Überlastung der Intensivstationen müssten Ärzte im schlimmsten Fall darüber entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss. Rettungskräfte kennen das aus Übungen oder Auslandseinsätzen als »Triage« (franz. trier sortieren, aussuchen, auslesen) oder »Sichtung«. Bei dieser Priorisierung handelt es sich damit um eine ethisch äußerst herausfordernde Aufgabe, weil Entscheidungen zu treffen sind, die mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod einiger Betroffener bedeuten. Wie geht aber unsere Gesellschaft mit diesem Thema um? »Das wäre, wenn die Intensivbehandlung medizinisch eigentlich weiterhin geboten wäre, strikt rechtlich betrachtet ein aktiv‐​tödliches Handeln«, erläutert der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, Mitglied des Deutschen Ethikrats (dpa, 06.04.2020)

Und damit gäbe es nicht nur eine existenziell empfundene Schuld am Tod von Menschen, sondern auch eine juristisch belangbare. Der bereits erwähnte Ethikrat nimmt dazu in seiner Publikation »Solidarität und Verantwortung in der Corona‐​Krise« Stellung: der Arzt könne in einem solchen Fall »mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen« (ethikrat.org, 27.03.2020). Dazu wieder Merkel: »Eine moralisch schuldfreie Entscheidung gibt es in einer solchen Situation gar nicht. Aber vor dem Strafrecht muss man die Ärzte in einer so dramatischen Situation so gut es geht bewahren.« Die Diskussion verschärft sich an dieser Stelle anhand der Frage, ob Menschenleben gegeneinander aufgrechnet werden können (»Alte« Leben versus »Junge« Leben etc.). Die deutsche Verfassung stellt klar, dass »menschliches Leben und menschliche Würde ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz genießen« (Bundesverfassungsgericht, 2006).

Damit steht die ethische Betrachtung in Deutschland gegen die Moralphilosophie des Utilitarismus (das kollektive Wohl soll maximiert werden, größtmögliches Glück für eine größtmögliche Zahl von Menschen), wie sie in vielen anderen Ländern praktiziert wird. So aktuell bei der Auswahl von covid‐​19‐​Patienten unter anderem in Italien: Hier gilt die Maximierung der zu erwartenden Lebensdauer der Patienten als Kriterium für die Versorgung seitens des medizinischen Personals. Die Praxis von Logotherapie und Existenzanalyse kontrastriert und wendet sich schon mit Frankl entschieden gegen den Utilitarismus, und zwar mit dem Verweis auf die Bedeutung des Einzelnen in seiner spezifischen Würde. Als Lösung bliebe in dem Dilemma der Triage im Fall »einer Überlastung der Intensivstationen, per Los zu entscheiden, um absolute Chancengleichheit zu gewährleisten« (dpa, 06.04.2020). Auch hier entkommen die betroffenen Entscheider ihrer existenziellen Schuld nicht, im Gegenteil: Bei den Beteiligten und vor allem den »Letzt‐​Entscheidern« kommt es auf der persönlichen Ebene in der Folge oft zu Schuldgefühlen oder posttraumatischen Belastungsstörungen. In Deutschland ist deshalb die Entscheidung über Leben und Tod nach Möglichkeit immer im Team zu treffen. Letztlich bleibt aber der Einzelne mit der Frage allein, wie er einen Umgang damit findet.