Totaler Zugriff. Ergebnis: individuelles Drama, existenzielle Not
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Totaler Zugriff. Ergebnis: individuelles Drama, existenzielle Not
Dies also sind einige Phänomene des Ausgreifens von Organisationen auf den »ganzen« Menschen. Der ganze Mensch, das heißt total. Total bedeutet völlig, vollständig. Total bedeutet noch: ausnahmslos, durch und durch, durchweg, ganz und gar, gänzlich, hundertprozentig, komplett, restlos, voll und ganz, vollkommen, vollständig … Der ganze Mensch ist nicht ganz im Sinne von heil oder bei‐sich, sondern er ist vollständig in Beschlag genommen durch Entgrenzung, Hyperinklusion, die Ideologie(n) des Wandels. Charakteristisch sind die Flüchtigkeit und Unsicherheit des Daseins, gekennzeichnet durch Umbrüche, Instabilität, Fluidität, hohen Leistungsdruck, Orientierungs‑, Ort‐ und Zeitlosigkeit, Einsamkeit, Angst vor der Bedeutungslosigkeit, Verschwimmen des Selbst und der Identität. Das geht einher mit dem Bedürfnis nach Trost, Halt, Ruhe, Stabilität, Orientierung, Selbstwerdung …
Leicht führen die hier beschriebenen Phänomene zu einer gefährlichen »Kapitulation des Geistes« und einem »Drama der Individualität«. Das persönliche Dilemma besteht darin, einerseits den Versprechungen von »sinnorientierter Arbeit« zu folgen und andererseits zunehmend nicht mehr selbst für Sinn im Leben zu sorgen. Es besteht auch darin, die psychologisch‐sozialen‐spirituellen Angebote der Organisation anzunehmen und, analog zur Sinnfindung, sich nicht mehr selbst um die eigenen seelischen, sozialen und körperlichen Bedürfnisse zu kümmern. Es wird beides von der Organisation abgenommen. Es wird beides konsumiert.
Hierin liegt der tiefere Grund verborgen, warum die Organisationen genau dieses anbieten, warum sie den Aufwand mit den Feel‐Good‐Managern betreiben: Sie wissen, dass es das Bedürfnis nach Sinnstiftung gibt. Sie kennen die seelischen, sozialen und spirituellen (transzendenten) Bedürfnisse der Beschäftigen. Sie wissen um die Entgrenzung. Aber die Organisationen befinden sich in dem Paradox, durch den totalen Zugriff auf den Menschen eben jenes beschriebene Dilemma auszulösen. Sie reagieren auf eine Wirklichkeit, die sie selbst geschaffen haben. Gleichzeitig erkennen sie, dass in den mitarbeiterorientierten Angeboten großes Potenzial steckt, effektive, wohlbefindliche und lukrative Organisationen zu sein.
Das Problem: Die Antwort darauf ist strategisch gedacht – und versucht, die Symptome auf einer rein psychologisch‐physischen Ebene zu lindern. So wird die Selbstoptimierung, individuell wie im Team, ebenso wie das Commitment für die gemeinsame Sache, ein rein formaler Akt der Organisationsentwicklung. Da die gemeinsame Sache und das damit verbundene Wir‐Gefühl nicht zwingend auch das Eigene ist, da der Zwang, sich qua Selbstoptimierung den Anforderungen der Organisation hinzugeben, nicht wirklich deckungsgleich mit der Gestaltung des eigenen Lebens zusammenfällt, läuft der arbeitende Mensch transzendental ins Leere.
Sich im Team wohlzufühlen, von den Kollegen für die Performance bestätigt zu werden, gemeinsam die (eigentlich private) Freizeit zu gestalten, zusammen den Kurs zu bestimmen – das sind durchaus Möglichkeiten einer kooperativen und partizipativen Organisationskultur. Dadurch aber, dass Purpose, Vision, Mission und Commitment als existenzielle Dimensionen einer Organisation an die Stelle eigener, persönlicher Sinnstiftung treten, nehmen sie als Platzhalter genau den Raum weg, der dafür notwendig ist. Also bleiben die eigentlichen existenziellen Fragen aus dem Eigenen heraus unbeantwortet. Es entsteht eine innere Leere, ein existenzielles Vakuum. Das erklärt, warum trotz Sinn stiftender Angebote, Wohlfühlprogrammen und Erfüllungsversprechen die Motivation der Beschäftigten so merkwürdig ungerichtet und unbestimmt wirkt. Oder aber, bei übersteigerter Idealisierung der Organisationsziele und Fehleinschätzung der eigenen tatsächlichen Bedeutung für die Organisation, einen Eindruck übertriebenen und fanatischen Engagements hinterlässt.
Sie schaffen damit eine Art Perpetuum Mobile, welches zum Erhalt der Organisation und in weiten Teilen auch der Arbeitskraft, aber nicht zur Linderung der eigentlichen d.h. existenziellen Not beiträgt. Dass die Organisation nicht die existenziellen Nöte der Beschäftigten beantworten kann und will, scheint verständlich. Das ist in aller Regel nicht ihr Sinn und Zweck. Sie greift aber stattdessen konsequent auf ein reduktionistisches, instrumentelles und letztlich totalitäres Verständnis des Menschen zurück. Die Funktionsweisen sozialer Interaktion, die psycho‐physischen Bedürfnisse des Einzelnen und insbesondere die auffälligen Psychodynamiken werden in den Blick genommen – und je nach Diagnose verstärkt oder ausgemerzt.