Der totale Zugriff der Organisation auf den Menschen

Auswüchse der Ideologie: Purpose‐​Kult, Wellbeing und Respiritualisierung

Auswüchse der Ideologie: Purpose‐​Kult, Wellbeing und Respiritualisierung

Purpose‐​Kult

Unter der Überschrift »Ideologie des Wandels« schreibt Georg Martensen in seinen »Befunden« zu Organisation, Führung und ihrer Beratung im Wandel über die Rückkehr des »ganzen« Menschen. Gemeint ist nicht etwa eine Rückbesinnung auf das Dasein des Menschen und seine existenziellen Themen, Bedürfnisse und Möglichkeiten, sondern das Ausgreifen »gierige(r) Institutionen« auf deren Führungskräfte, welche wiederum zusehends »den ganzen« Menschen in den Blick nehmen: »Menschen sollen sich dann ganz einbringen, ihre Arbeit soll zum Sinnzentrum des Lebens werden.« Den Menschen selbst weiterhin nur als Ware und Rohstoff anzusehen, ist der Markt‐ und Informationsgesellschaft scheinbar nicht mehr geheuer, es braucht offensichtlich dringend eine Rückbesinnung. Auch der »Homo Oeconomicus« scheint nicht ohne Sinnstiftung auszukommen.

Nicht nur global agierende »21st‐​Century« Non‐​Profit‐​Organisationen, heimische Start‐​ups oder Tech‐​Organisationen des Typs Silicon Valley, sondern auch große Konzerne wie die Telekom, Deutsche Post DHL Group oder die Deutsche Bahn haben ihre Leitbilder jeweils um die Dimension des »Purpose« erweitert. In den Mission Statements ist längst nicht mehr nur die Rede von Unternehmenszielen und ‑zwecken, sondern auch von dem selbst gestellten Auftrag, dem einzelnen Mitarbeiter zu Sinnerfahrungen zu verhelfen.

Vor allem das Milieu der Performer, Expeditive und Adaptiv‐​pragmatische Milieus (Sinus‐​Institut, 2020) sowie deren Organisations‐ und Unternehmensformen scheinen bisher in die »Purpose‐​Falle« getappt zu sein. Der dramatische Wandel der Märkte und damit auch der Arbeitswelten trägt dazu bei, dass auch traditionelle Berufe und Organisationen sowie Verwaltung und Industrie sich zunehmend auf der Suche nach Purpose befinden: Leitbildprozesse, Zukunftswerkstätten und Organisations‐ wie Teamentwicklung kommen nicht mehr ohne den Reason Why und seinen Golden Circle (gekennzeichnet durch die drei Fragen »Why?«, »What?« und »How?«) aus.

»Innovationsmanager« sind gefragt, die mittels »Presencing« (Otto Scharmers »Theory U«, »gemeinsam schöpferisch neue Lösungen schaffen«) und Design‐​Thinking-Prozessen die Veränderung hin zur hellen Zukunft in den Blick nehmen – und gleichzeitig qua Sinnerfüllung durch kreativer Partizipation am Wandel ein in der Organisation eingebundenes besseres, höheres Selbst zu erlangen. Die einst gesunde Skepsis der Mitarbeiter solchen Prozessen gegenüber ist teils einer resignativen Haltung gewichen, teils kanalisiert sie sich nun im Gegenteil dessen, im euphorischen Mittun an der Konzeption des unternehmerischen großen Ganzen.

Das zeigt sich dann auch äußerlich: Fenster und Glasscheiben werden mit Prozessen und Strukturmodellen beschriftet; Flurwände werden mit Post‐​its und Graphic Recordings der letzten Kreativsessions für alle sichtbar behangen; in den Sozialräumen hängen Poster mit der Unternehmensmission oder aktuellen Fragen, über die die Mitarbeiter ins Gespräch kommen sollen; natürlich dürfen Sofaecke, Schaukel, Hängematte, der berühmte Kicker (wir hatten früher auch noch einen Billardtisch, Anm. des Autors) nicht fehlen; es gibt einen Bücherschrank für den Büchertausch, eine Obst‐ und Gemüsekiste des nächsten regional produzierenden Ökobauern etc. Manche Organisationen nutzen alte Werkshallen, ungenutzte Schwimmbäder, aufgegebene Brauereien, stillgelegte Hafenkräne, festgemachte Frachtkähne, abgestellte Eisenbahnwaggons – alles, was einen Bruch zur gewohnten Umgebung verspricht, um hier kreativ tätig zu sein.

»Passion« für die Mission, den »organisationalen Sinn«, soll sich entwickeln, dafür braucht es aber auch Unterstützung von außen, zum Beispiel durch berühmte und motivierende Speaker: »Laden die Unternehmen Wirtschafts‐ oder Marketingexperten ein, dann wollen sie tatsächlich Informationen bekommen und nicht nur eine vage Wohlfühl‐​Botschaft. Geht es jedoch um Fragen, die die menschliche Seele betreffen, dann hört es sich eher so an, als ob sie ihren Mitarbeitern eine Art mentaler Botschaft vermitteln wollte und nicht etwas, das den Namen Information oder Fortbildung verdienen würde.« (Strenger, 2016)

Wellbeing und Respiritualisierung

Nach einer jahrzehntelang anhaltenden Phase der Entspiritualisierung, befeuert vor allem durch Triebkräfte wie Globalisierung, Ökonomisierung und Individualisierung, kommt es seit Jahren zu einer Ära der Respiritualisierung: Plötzlich ist Ganzheitlichkeit die neue Norm für die Betrachtung von Mensch und Arbeit. Programme wie »Mindfulness« (Achtsamkeit) tragen auch im Unternehmen dazu bei, sich wohlzufühlen. Gesteuert wird dies durch eigens rekrutierte »Wellbeing Manager«, »Feel‐​Good‐​Manager«, »Company Culture Manager«, oder »Herzlichkeitsbeauftragte«, diese sollen dann den Gefühlshaushalt und die körperliche Fitness in Ordnung bringen, damit die Leistungsmotivation auch stimmt: Was brauchen die Beschäftigten, um sich am Arbeitsplatz wohlzufühlen? Teeküche, Obstkorb, Massagen … Was darf es neben Sinnstiftung noch sein? Da gäbe es noch Corporate Volunteering im Angebot oder einfach mal ein Sabbatical.

Nach Aussagen von Unternehmen und Feel‐​Good‐​Managern gehören Eigenschaften wie Empathie, Energie, Engagement, Gerechtigkeit, positives Denken, Offenheit, kommunikatives Denken, Spaß (an der Arbeit) unbedingt zu dem Job. Ihre Aufgaben sind vielfältig, sie organisieren Teambuilding, Kummerkasten, Feedback, »Starters Lunch« für neue Mitarbeiter, Azubi‐​Ausflüge, »Selbsthilfe bei schlechter Laune«, Team Events, »Family & Friends BBQ«, Barcamps, »Klassenfahrten«, Fitness‐​Flatrates, Ausflüge in den Hochseilgarten, mittelalterliche Schwertkämpfe – einschließlich After‐​Work‐​Cocktails in der Szene‐​Lounge um die Ecke oder, ganz casual, gemeinsames Biertrinken aus dem Kasten in der Teeküche.

Neben der Dimension des Wohlfühlens nehmen die Feel‐​Good‐​Manager aber auch die spirituelle Seite des Menschen in den Blick. Nicht selten adressieren Teambuildings und Trainings auch die Glaubenssysteme und ‑sätze der Organisation und der Mitarbeiter. Die Idee, dass wir in Wirklichkeit sehr viel wertvoller, begabter, besser und potenziell erfolgreicher sind, und nur unsere Potenziale nicht ausschöpfen, leitet viele Beratungssettings und Trainingsangebote. »Ich lebe (arbeite) unter meinen Möglichkeiten«, ist in Coachingsessions mit jungen Führungskräften häufig zu hören. Die Verführungskraft dieser Gedanken (»Ich kann es, wenn ich es nur will«, »Ich muss nur eins mit mir werden, dann finde ich den richtigen Weg«, »Ich kann Unmögliches erreichen, wenn ich meinen Willen stärke«) ist enorm. Eine ganze Industrie der »Pop‐​Spiritualität« setzt seit vielen Jahren umfangreiche Programme und Angebote auf – die auch von Organisationen genutzt werden. So kommt die ganze Belegschaft zum Event mit einem Motivationsguru in die Stadthalle; das Team verabredet sich zur Klausur in ein Yoga‐​Retreat in der Toskana; im betrieblichen Fortbildungsprogramm finden sich Kursangebote für Achtsamkeit und Meditation. Wer diese Dinge nicht selbst in der Privatsphäre für sich zu organisieren vermag, findet sie nun im Kontext der Arbeit gebenden Organisation.