Der totale Zugriff der Organisation auf den Menschen

Der Mensch ist ein Wesen in Raum und Zeit. Der Zugriff auf den ganzen Menschen erfasst ihn in seinem Dasein, in seiner Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Bei gleichzeitiger umfassender Entgrenzung, Hyperinklusion und Selbstoptimierung schwinden Halt und Orientierung in Raum und Zeit. Der Mensch versinkt in Bedeutungslosigkeit. Organisationen versprechen nunmehr, Halt und Sinn zu geben. Der Mensch entpflichtet sich davon, sein Leben selbst zu schaffen; er findet keine eigenen Antworten auf die Fragen des Lebens und – fällt ins Bergfreie. 

Auflösung von Raum und Zeit: Entgrenzung und Hyperinklusion

Entgrenzung

Die Arbeitswelten haben sich in den letzten zwanzig Jahren dramatisch gewandelt. Vor allem die umwälzende Veränderung von zeitlichen und räumlichen Strukturen der Erwerbsarbeit steht im Zeichen von Entgrenzung, der Auflösung von Grenzen zwischen den beiden – traditionell getrennten – Sphären »Arbeit« (Arbeitsstelle, Arbeitsplatz, Arbeitsumfeld, Aufgaben etc.) und »Privat« (Wohnort, Wohnung, Familie, Freizeit, Sport, Engagement etc.).

Das zeigt sich im Arbeitsalltag: Grenzen zwischen der eigentlichen Arbeitszeit und den Ruhepausen verwischen, Pausen werden kürzer und segmentierter, die vereinbarte Arbeitszeit oft nicht eingehalten. Überstunden werden als selbstverständlich angesehen, oft sogar nicht vergütet. Arbeitsorte splitten sich auf z. B. in Arbeitsstelle am Unternehmenssitz, mobiles Arbeiten von unterwegs, Home-Office. Arbeitsumfelder sind nicht mehr nur am Arbeitsplatz zu finden, sondern zunehmend virtuell, digital auf Distanz: Teams bilden sich nicht nur am Ort der Organisation, sondern online. Ein typischer Arbeitstag findet längst nicht mehr Ausdruck im bekannten »Nine‐​to‐​Five«; aufgrund digitaler Möglichkeiten ist auch am Abend, von zu Hause aus, die Erledigung von Aufgaben möglich. Auch ein typisches, traditionelles langes Wochenende prägt immer weniger das Ende der Arbeitswoche. Im Gegenteil, für viele fängt die neue Arbeitswoche bereits am Sonntagabend an: um vor die Welle der Arbeitsflut der neuen Woche zu kommen, werden liegen gebliebene oder neue Aufgaben im Home‐​Office abgearbeitet.

Ursächlich verantwortlich für das Verschwimmen der räumlichen und zeitlichen Grenzen sind global agierende Unternehmen und Organisationen; verschiedene Formen des Outsourcing; Flexibilisierung und Rationalisierungsprozesse – mit dem Ziel eines erweiterten Zugriffs auf den arbeitenden Menschen, vor allem auf seine zeitliche und räumliche Verfügbarkeit.

Eine besondere Herausforderung stellen moderne, als besonders innovativ und kooperativ geltende Organisationskulturen dar. Vor allem über neue Arbeitsformen wie »Crowdworking« und »Coworking« wird das kollegiale Miteinander überbetont; kreatives Teamwork ist das Paradigma, bei gleichzeitigem Versuch, das eigenverantwortliche und selbstständige Arbeiten zu forcieren. Typisch für viele Teamentwicklungsprozesse sind Methoden, die darauf setzen, dass der einzelne Mitarbeiter auch seine private Seite zeigt (angefangen bei Kennenlernrunden über Rollenspiele bis hin zu psychologischen Selbst‐ und Fremdeinschätzungen, die vor der Kollegengruppe vorgenommen werden – also Methoden, die eigentlich der Selbsterfahrung dienen). Das in solchen Prozessen formal erzeugte Wir‐​Gefühl fragt nicht nach dem individuellen Interesse oder Bedürfnis, sondern nimmt den einzelnen Mitarbeiter in ungewollte kollektive Pflicht. Flache Hierarchien wiederum führen dazu, dass der nunmehr privat anmutende Umgang mit gleichgestellten Kollegen im Arbeitskontext immer problematischer wird.

Damit einhergehend zeigt sich das auch im privaten Alltag: Sicher bietet die Entgrenzung eine Chance für bessere Vereinbarkeit z. B. von Familie und Beruf, weil v. a. durch Home‐​Office eine selbstbestimmte Flexibilität möglich ist. Doch die Sphäre der Arbeit überschreitet die Grenze zur Sphäre des Privaten, die Arbeit dringt ins Private ein. Das bringt hohe Belastungen mit sich, vor allem dann, wenn Familien im Spiel sind. Der Druck ist größer geworden, das Private den Anforderungen der Arbeit unterzuordnen. Die berufliche Aufgabe erhält Vorrang vor allen anderen Lebensbereichen. Die gegenwärtige Krise, die zu einem gigantischen Aufwuchs an Distanzarbeit über Home‐​Office (»Mobile Arbeit«, regelmäßig untersucht durch die Reports des DGB‐​Index »Gute Arbeit«) geführt hat, sorgt zusätzlich mit großer Wirkmacht dafür, dass die Grenzen zwischen Privatleben und Arbeitswelt, zwischen Freizeit und Arbeitszeit verwischen. In Zeiten des mobilen Arbeitens angesichts der Pandemie lässt sich an vielen Stellen Überforderung und Überlastung beobachten. (Für viele Alleinerziehende und Familien dringt nun neben der Sphäre der Arbeit auch die Sphäre der Bildung und Betreuung in den privaten Alltag ein: Home‐​Office und Home‐​Schooling sorgen dafür, dass sich nun  innerhalb der Grenzen der eigenen Wohnung mehrere Sphären des Lebens drängeln, die eigentlich voneinander getrennt sein wollen.)

Das »Work‐​Life‐​Blending«, die Vermischung der beiden Sphären »Arbeit« und »Privat«, führt zu ständigen Grenzüberschreitungen. Die gewohnten Grenzen lösen sich zunehmend auf, die Unsicherheiten nehmen zu. Dazu kommen Müdigkeit und Erschöpfung, Burn‐​Out oder Gehetztsein, Resignation. Viele suchen in der Selbstoptimierung durch Training, Coaching, Selbsterfahrung und Selbstreflexion, Feedback, Intervision, Supervision – aber auch durch Meditation, Sport, Yoga oder andere sich auf sich selbst beziehende Aktivitäten den Ausweg aus diesem Dilemma.

Hyperinklusion

Eine weitere, extreme Form der Entgrenzung ist die Hyperinklusion. Menschen sind so sehr in eine einzige Organisation eingebunden, dass die gesamte Lebensführung der Person sich vollständig daran ausrichtet. Die Teilhabe an anderen Lebenszusammenhängen oder gesellschaftlichen Bereichen wird zunehmend unmöglich. Daraus kann eine Unfähigkeit entstehen, sich selbst freiwillig aus der Hyperinklusion zu lösen.

Carlo Strenger berichtet in »Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit« (dt. 2016) von einer etwas anders zu verstehenden Form von Entgrenzung: Die Globalisierung nimmt Einfluss auf die individuelle Psyche, auf Kultur und Politik. Besonders alle sozialen Spielformen des Internets (v.a. Social Media) prägen alle Generationen, die damit aufwachsen. Die Beeinflussung geschieht vor allem durch Rankings und Netzwerke (»Likes«, »Freunde« und »Follower«). Strenger spricht vom »Homo Globalis«, eine neue Mutation der Menschheit, die durch die intensive Beziehung zum Infotainment‐​Netzwerk definiert ist (»Informationsgesellschaft«). Er weist in klinischen Studien nach, dass der »Homo Globalis« nicht nur zunehmend orientierungslos ist, sondern es bedeutend schwieriger hat, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und in der Folge vor einer erhöhten Angst vor Bedeutungslosigkeit leidet.

Was an Entgrenzung, Hyperinklusion und Selbstoptimierung des modernen Menschen beobachtet werden kann, muss Anlass zur Sorge sein. Allein in Sachen Entgrenzung hält die Studie »Digitalisierung/​Arbeit 4.0« (2017) der Albert‐​Ludwigs‐​Universität Freiburg fest: »Mehr als 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung empfindet die Vermischung als so weit vorangeschritten, dass sie keine Grenze mehr ausmachen kann.« – Die Sorge wird allerdings größer, betrachtet man den Zusatz zu diesem Befund: »Das Phänomen der verschwimmenden Grenzen ruft in der Bevölkerung ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Die Wenigsten sehen dies negativ, die breite Masse ist sich nicht schlüssig, was sie davon halten soll.« – Was wohl daran liegen mag, dass verschwimmende Grenzen ein Phänomen der Verflüssigung sind, also eher einen schleichenden Prozess kennzeichnen und nicht etwa in eruptiver Form über die Menschen hereinbricht. Und gleichzeitig sind viele Menschen nicht in der Lage, sich dazu zu positionieren.