Der totale Zugriff der Organisation auf den Menschen

Machtvolle Treiber: Totalitäre Marktgesellschaft, Imperialismus und Regime

Machtvolle Treiber: Totalitäre Marktgesellschaft, Imperialismus und Regime

Phänomene wie Entgrenzung und Hyperinklusion geschehen nicht in dieser umwälzenden, den ganzen Menschen umgreifenden Form, wenn es nicht dahinterliegende, wirkmächtige interessensgeleitete Triebkräfte geben würde. In den Fokus geraten hier vor allem Globalisierung, Ökonomisierung und Individualisierung, die lange unter einem gemeinsamen Label liefen: Neoliberalismus.

Der streitbare Norbert Blüm urteilt in seinem Bestseller »Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus« (2005): »Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. Aus Marktwirtschaft, also ein Segment, soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr neue Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt Zentralen der inneren Steuerung des Menschen.« – Damit ist er in der Zeit vor der Finanzkrise nicht allein. Auch Christoph Butterwegge schließt scharf in seiner »Kritik des Neoliberalismus« (2007), dass der Machtanspruch dieses »Besatzungsregimes« total und universell sei: »Total durch den Anspruch an eine umfassende Entpolitisierung des Gesellschaftlichen und universell im Hinblick auf seinen globalen Geltungsanspruch.«

Carlo Strenger (2016) ist im bereits erwähnten Werk der Meinung, dass der Neoliberalismus spätestens seit der Finanzkrise nicht mehr vorherrschendes Paradigma ist: »Der Zusammenbruch der Finanzmärkte hat uns aus der neoliberalen Überzeugung aufgeschreckt, der Kapitalismus habe die Essenz dessen entdeckt, was ein erfülltes menschliches Leben ist. Mit dem Bankrott der Lehman Brothers war der Untergang dieses Dogmas besiegelt; nun wurde selbst den hartnäckigsten Verfechtern eines zügellosen Kapitalismus klar, dass eine historische Epoche an ihr Ende gekommen war.«

In der jüngsten Zeit jedoch treten wieder häufiger Kritiker auf den Plan, die, vor allem durch die Auseinandersetzung mit Infotech‐​Konzernen wie Google oder Amazon, totalitäre Züge in Form von totaler Überwachung auch des Privaten bei diesen Unternehmen ausmachen. Soshana Zuboff etwa verweist in einem Kommentar in der FAZ (»Die Google‐​Gefahr: Schürfrechte am Leben«, 2014) auch darauf, das bisherige totalitäre politische Systeme Nischen freigelassen haben, weil sie diese nicht kontrollieren konnten. Dies übernehmen nun, so Zuboff, die Unternehmen, gesteuert durch das eigene Profitinteresse.

Nahezu sämtliche Kritiker des Neoliberalismus beschreiben zudem einen wichtigen Widerspruch: Sowohl auf einer gesellschaftlichen als auch auf einer individuellen Ebene fördert er Freiheit und Emanzipation, zielt aber als »totalitäres System« darauf ab, »die Gesellschaft und den Einzelnen in Übereinstimmung mit seinem dogmatischen Marktfundamentalismus zu bringen« (Jon Kofas, »Neoliberal Totalitarianism and the Social Contract«, 2019). Auch hier erkennen wir ein Verschwimmen sicher geglaubter Grenzen.