Befunde zu Organisation, Führung und ihrer Beratung im Wandel

Tragik des Wandels – Erosion von Organisation und Führung

Tragik des Wandels – Erosion von Organisation und Führung

Die dynamische Interaktion von Führung und Beratung akzeleriert die Geschwindigkeit ihrer eigenen Infragestellung: Die Binnenkomplexität von Organisationen steigt zirkulär mit jedem Durchgang. Dies unterminiert auf zweierlei Weise die Legitimationsbasis von Führung: einerseits in ihrer essentiellen Funktion und andererseits in der personalen Glaubwürdigkeit ihrer Rollenträger. Der Versuch von Führung und Führungsberatung, allein durch weitere Operationen auf der strukturellen Ebene so »vor den Wind of Change« zu kommen und auf diese Weise diskretionären Handlungsspielräume im Angesicht einer an Widersprüchen reicher werdenden Welt zurückzugewinnen, enthüllt eine existenzielle Tragik: Die zunehmend verflüssigte Organisation droht in einer auf diese Weise nicht mehr beherrschbaren Kontingenz zu ertrinken: Dem Verlust ihrer Resonanzfähigkeit droht der Infarkt des rasenden Stillstands, dem Anschlussverlust droht Weltverlust, um an dieser Stelle einmal an die Deutungsmuster von Hartmut Rosa (2020, 2018) anzuschließen.

Stefan Kühl (2015) beschreibt derart »chronisch aufgetaute Systeme« wie folgt:

»Der Organisation ist es, nachdem sie ihre existierenden Strukturen aufgetaut hat, nicht gelungen, die neuen Strukturen wieder »festzufrieren«. Die Organisation befindet sich permanent in Unruhe, nichts läuft seinen geregelten Gang. Alles erscheint problematisch, weil vergangene Erfahrungen als riskant betrachtet werden und der Glaube an die Eindeutigkeit verloren gegangen ist. In kritischen Situationen kann die permanente Produktion von Neuem die Organisation so stark destabilisieren, dass keinerlei gemeinschaftliche Handlungen mehr möglich sind. Es können so viele Veränderungen in ein soziales System getragen werden, dass es irgendwann angesichts der als massive Störungen empfundenen Beunruhigungen zusammenbricht. Die Organisation droht tendenziell zu einer bloßen Menge kaum noch zusammenhängender Entscheidungen zu degenerieren.«

Nach Karl E. Weick (1985) sind Organisationen Sinn erzeugende Systeme. Ihr Sinn wird aus einem kontinuierlichen Blick in den Rückspiegel erzeugt. Der Fokus auf das ›Woher‹ und das ›Warum‹ konstruiert im gegenwärtigen Moment eine soziale Realität, die zugleich in die Zukunft tragen soll aber immer angebunden ist an die Vergangenheit. Sobald angesichts der aktuellen organisationalen Herausforderungen und Gegebenheiten im ›Hier und Jetzt‹ der Rückblick auf die einstmals sinngebenden Entscheidungen den Mitgliedern der Organisation keine gemeinsame Sinnkonstruktion mehr erlaubt, stürzt die Organisation in eine existenzielle Krise – und mit ihr die Mitglieder der Organisation.

In ihrer existenziellen Not klammern Führende und Folgende aneinander und halten sich wechselseitig in einer Art ›Sperrklinkeneffekt‹ gefangen in Endlichkeitsangst, Vereinzelung und Isolation, Unfreiheit und mangelnder Selbstverantwortung und in Sinnlosigkeit. Führende und Folgende suchen dann ihr Heil – wie skizziert – in allerlei ›bewährten‹ Bewältigungsmustern (Copings), von denen die gängigsten wohl die Flucht (aus der Verantwortung), die Negation (Ignoranz und blinde Flecken), der Aktivismus (Ablenkung, Entkopplung, Symbolik) und die Katatonie (Starre und das zur ›Tugend‹ erklärte Nichthandeln) sind.