Befunde zu Organisation, Führung und ihrer Beratung im Wandel

Ideologie des Wandels – Rückkunft des ›ganzen‹ Menschen

Ideologie des Wandels – Rückkunft des ›ganzen‹ Menschen

Organisationsentwicklung und Change‐​Beratung vollziehen sich offenbar ohne Kompass in einer orientierungslosen, rastlosen Flucht nach vorn ins Ungewisse. Der Ausnahmezustand wird zum Normalfall von Organisationen, die Not zur Tugend umgedeutet, der Wandel zum Dogma erklärt. Und in ihrer Haltlosigkeit greifen gierige Institutionen (Coser, 2015) auf ihre Führungskräfte und diese zusehends auf »den ganzen« Menschen aus. Menschen sollen sich dann ganz einbringen, ihre Arbeit soll zum Sinnzentrum des Lebens werden. (Kühl, 2019).

Bei aller Verschiedenartigkeit und Widersprüchlichkeit der Methoden, Tools, Begriffe und erzeugten Bilder im Einzelnen, bleibt eine grundlegende Gemeinsamkeit im Allgemeinen: Die Suche nach der nächsten richtigen Antwort erfolgt innerhalb des etablierten Deutungskanons. Und zwar sowohl hinsichtlich organisationaler Fragestellungen, wie auch – und dies scheint hier zentral zu sein – in Bezug auf das Missverständnis dessen, was den angeblich »ganzen« Menschen dort in der Organisation ausmacht. Organisationen und Führung liefern sich dabei immer weiter der Verhaftung in der Strukturebene aus, die sie zugleich verflüssigen.

Das Gros der Empfehlungen läuft entsprechend auf strukturell angelegte Veränderungen hinaus, also auf Anpassung, Restrukturierung und die Verflüssigung organisationaler Binnenwelten. Zur individuellen Vermittlung und zum Trainieren von Sozialtechniken werden Tools verfügbar gemacht, die zur Selbstoptimierung, zur Entgrenzung der Organisation und zur Hyperinklusion des Menschen beitragen. »Purpose‐​Drive« (Fink & Moeller, 2018) und etwa »Mindfulness« (Kabat‐​Zin, 2006) und »Presencing« (Scharmer, 2015) sind bereitstehende Gefäße, die um ihre z. T. ursprünglich spirituell‐​transzendenten Inhalte entkernt wurden. Sie dienen nun der Aufnahme und nostalgisch aufgeladenen Inszenierung einer ›Rückkehr‹ der Gefühle und gemeinsam als Auffanglager der erwarteten endlichen Ankunft des angeblich ›ganzen‹ Menschen in seiner gemeinten Eigentlichkeit, in kollektiver Verschränkung, gemeinsamer Achtsamkeit und seinem Aufgehen in einem größeren Ganzen auf dem Weg zu einem ›höheren Selbst‹.

Die Anleitungen zu Selbstoptimierung und zum ‚gemeinsamen Spüren auf etwas Größeres hin‘ sind dabei rein formaler Natur, sie sind transzendentell entkoppelt (Scharmer, ebd., S. 191; Kabat‐​Zin, 2019, S. 28) und materiell entkernt (Purser, 2019). Ihre Anwendungen im organisationalen Kontext befördern die Erzeugung innerer Leere, eines existenziellen Vakuums, und adressieren eine vor einem horror vacui vermeintlich zurückweichende ›Natur des Menschen‹, die sodann ihr Heil in organisational verabreichten Angeboten zur Entlastung des aufkommenden Sinnunterdrucks suchen soll. So legitimiert sich ein reduktionistisches, instrumentelles und letztlich totalitäres Verständnis der Natur und Funktionsweise des Menschen. Menschen in Organisationen werden nun explizit als Objekte zielgerichteter Beeinflussungen sozusagen ›freigegeben‹. Auf der Hinterbühne von Sinn stiftenden Angeboten, Wohlfühloffensiven und Glücksversprechen inszeniert sich ein instrumentelles Verständnis der sozialen Interaktion zwischen Individuen, das konsequent auf die psycho‐​physische Dimension und die Strukturbedingtheiten des Menschen in Organisationen abzielt: Auf dass ein jeder den anderen zum Objekt mache! Nicht selten erscheint dies noch unter dem Banner des Humanen und der Proklamierung des Beitrags für eine bessere Welt. – Oder, um es mit Goethe (1787) zu sagen:

»Auch muß ich selbst sagen, halt ich es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter werden wird.«

Führung versagt sich dann ihrem essenziell funktionalen Auftrag, der an die Aufrechterhaltung der Organisation als soziales System gekoppelt war. Die Perspektive von Führung verengt sich auf eine rein formale Leader‐​Followership‐​Relation, die sich von ihren materiellen Inhalten gelöst hat. Führungskräfte entwickeln sich zu »Influencern« (z.B. Liebermeister, 2020), denen es um die Frage geht: Wie erreiche ich, dass andere Menschen mir folgen und sich von mir beeinflussen lassen? Nichts bleibt dem Zufall überlassen, und Auftritte werden inszeniert, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Führung praktiziert dann ›Einflussnahme‹ (z.B. Cialdini & Cliffe, 2014 und Morgan et al., 2017) und versteht ihren Auftrag nicht mehr im funktionalen Sinne, sondern nurmehr als sinnentleertes Management von Emotionen (z.B. Schaff & Hojka, 2018), um Stakeholders ›bei Laune‹ und Shareholders ›bei der Stange‹ zu halten.